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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Postkoloniale Praxis in der Entwicklungszusammenarbeit

Factsheet Nr. 3 der Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Die Strafgesetze gegen homosexuelle Handlungen in den Ländern des Globalen Südens sind kolonialen Ursprungs. Die Kolonialmächte haben etwa mit der langen Geschichte der Missionierung durch die Kirchen auch Geschlechterrollen geprägt.

Foto des Factsheets "Für eine postkoloniale Praxis in der Entwicklungszusammenarbeit"

Dokumentation des 3. Factsheets "Für eine postkoloniale Praxis in der Entwicklungszusammenarbeit" der Hirschfeld-Eddy-Stiftung (April 2022). Seit 2007 unterstützt die Stiftung den weltweiten Kampf für die Stärkung und Achtung der Menschenrechte von LSBTI. Sie ist die Menschenrechtsstiftung des Lesben- und Schwulenverbandes. Das Factsheet kann hier kostenfrei bestellt werden und ist als pdf zum Download verfügbar.

Seit Jahren fordern Aktivist*innen eine ernsthafte und kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte. Deutsche Kolonien gab es etwa in den heutigen Ländern Namibia, Togo, Kamerun, Tansania, Ruanda, Burundi, Papua-Neuguinea oder Samoa. Sie mussten nach dem Ersten Weltkrieg abgegeben werden und wurden von anderen europäischen Kolonialmächten weiter ausgebeutet.

Neben einem Engagement für die Umbenennung von Straßennamen oder die Errichtung von Gedenktafeln gibt es auch lauter werdende Forderungen nach einem Schuldeingeständnis („Apology“) und Entschädigungszahlungen für die Kolonialverbrechen Deutschlands, wie den an den Herero und Nama in Namibia verübten Völkermord.

Postkoloniale Kritik – dieser in Universitäten entwickelte Ansatz beschäftigt immer mehr auch Menschenrechtsverteidiger*innen im Globalen Norden, so auch diejenigen, die sich für Lesben, Schwule, bisexuelle, trans* und inter* Menschen (LSBTI*) im Globalen Süden einsetzen. Dabei entsteht mitunter der Eindruck, dass aus dem Norden heraus nur falsch gehandelt werden kann und folglich lieber gar nicht gehandelt werden sollte. Was tun? Dieser Frage widmet sich die Yogyakarta-Allianz.

Die Yogyakarta-Allianz: ein postkoloniales Bündnis

Sie hat sich 2012 als Initiative der Zivilgesellschaft in Berlin gegründet. Die Hirschfeld-Eddy-Stiftung ist Mitbegründerin. Benannt ist die Allianz nach den Yogyakarta-Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität (SOGI) von 2006.

Sie engagiert sich für eine deutsche Entwicklungs- und Außenpolitik, die die sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität sowie Geschlechtsmerkmale und Geschlechtsausdruck (SOGIESC) inklusiv aufgreift.

Die Strafgesetze gegen homosexuelle Handlungen in den Ländern des Globalen Südens sind kolonialen Ursprungs. Die Kolonialmächte haben etwa mit der langen Geschichte der Missionierung durch die Kirchen auch Geschlechterrollen geprägt. Das Spektrum bestehender lokaler Geschlechtsidentitäten und Geschlechtsausdrucke wurde oft mit Gewalt stark eingeengt und unterdrückt.

Daher setzt die Yogyakarta-Allianz auf eine postkoloniale Praxis in der Entwicklungszusammenarbeit, die auch die kolonial geprägte Geschichte der Verfolgung von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten explizit berücksichtigt.

Kolonialmächte führten homophobes Strafrecht ein

Vor allem das britische Empire exportierte sein homosexuellen- und trans*feindliches Strafrecht in einen Großteil seiner Kolonien. Erstmalig wurde ein sogenanntes „Sodomy Law“ von der britischen Kolonialregierung 1860 im heutigen Indien eingeführt. In Anlehnung an die eigene viktorianische Gesetzgebung stellte es homosexuelle Handlungen unter Strafe.

Der Paragraf 377 im indischen Strafgesetzbuch diente fortan als Modell und wurde nach und nach fast im gesamten britischen Kolonialreich verbreitet: in Asien, auf den pazifischen oder westindischen Inseln und auf dem afrikanischen Kontinent. Erst 1976 wurde Homosexualität in England und Wales entkriminalisiert. Zu der Zeit hatten sich viele ehemalige Kolonien bereits ihre Unabhängigkeit erkämpft. Das Verbot von Homosexualität blieb dort bestehen.

Auch Frankreich führte in einigen seiner Kolonien homophobe Strafgesetze als Mittel sozialer Kontrolle ein. Diese überdauerten etwa in Benin, Kamerun oder im Senegal ebenfalls die Unabhängigkeit. In Deutschland kriminalisierte der berüchtigte Paragraf 175 über 123 Jahre Homosexualität unter Männern. Seine Auswirkungen auf die deutschen Kolonien sind kaum erforscht.

Folgen kolonialer Missionierung bis heute spürbar

In dem Bericht „This Alien Legacy: The Origins of ‚Sodomy‘ Laws in British Colonialism“ beschreibt Human Rights Watch(HRW) detailliert die verhängnisvollen Folgen dieser britischen Kolonialgesetzgebung bis in die Gegenwart: Noch heute stehen in über 30 der 54 Länder, die im Commonwealth zusammengeschlossen sind, homosexuelle Handlungen unter Strafe. Dass es bis heute spürbare Auswirkungen der kirchlichen Missionsgeschichte etwa für junge Lesben in Namibia gibt, betont Liz Frank vom Women’s Leadership Centre (WLC) in Windhuk.

Trotzdem wird dieses Erbe des Kolonialismus kaum diskutiert. Stattdessen gehen die Missionsanstrengungen mancher westlicher Kirchen unvermindert weiter: Mit viel Geld und Personal führen etwa evangelikale Kirchen aus Nordamerika ihren Kulturkampf auf dem afrikanischen Kontinent fort. Sie fördern massive Hetze gegen Lesben und Schwule und arbeiten etwa in Uganda mit der Regierung an Verschärfungen bestehender Antihomosexualitäts-Gesetze.

Besonders auffällig ist, dass manche Politiker*innen in den einst kolonisierten Ländern gerade diese Auswirkungen der Kolonialgesetze auf die heute vorherrschenden Moralvorstellungen als Ausdruck einer nationalen oder kulturellen Identität deklarieren. Für sie sind nicht diese Gesetze ein westlicher Import, sondern Homosexualität.

Das ist ein besonderes Problem für die queere Emanzipationsbewegung in diesen Ländern. Für sie ist der Kampf für eine Entkriminalisierung daher Teil der Entkolonisierung.

Verfolgungsgeschichte von LSBTI als Teil der Aufarbeitung des Kolonialismus – Forderungen nach „Apology“

2008 wurde bei einer Demonstration in Mumbai am 61. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens eine Entschuldigung gefordert für das große Leid, das die Einführung des „Sodomy Law“ bewirkt hat.

Eine Kampagne zur Entschuldigung für den Kolonialismus – mit diesem Vorschlag begeisterte die kenianische Anwältin und Aktivistin Imani Kimiri die Yogyakarta-Allianz bei einem Treffen 2015 in Berlin:

„No offense, guys, but your countries came to our countries and violently took what wasn´t yours and left gay people outlawed. Isn´t it time to come up with an apology for colonialism and particularly for the homophobic laws that colonial rule introduced here?”

Kimiri war damals auf dem Weg nach Großbritannien, um an einer Kampagne für eine solche „Apology“ zu arbeiten. Mit Erfolg. Im April 2018 war es endlich soweit. Die britische
Premierministerin Theresa May sagte öffentlich:

„I deeply regret that such laws were introduced, and the legacy of discrimination, violence and even death that persists today.” (The Guardian, 17.04.2018)

Damit drückte die britische Regierung erstmals öffentlich ihr „tiefes Bedauern“ über das Leid aus, das die eigene homophobe Kolonialgesetzgebung angerichtet hat und bis heute anrichtet.

Botswana und Indien: Aktivist*innen erkämpfen Entkriminalisierung

Am 6. September 2018 fiel das einstimmige Urteil des indischen Supreme Courts: Paragraf 377 ist verfassungswidrig. Damit wurde die Kriminalisierung einvernehmlicher sexueller Handlungen unter Erwachsenen gleichen Geschlechts abgeschafft. Das ist vor allem das Ergebnis eines jahrzehntelangen Kampfs der indischen Zivilgesellschaft auf gerichtlicher und gesellschaftlicher Ebene.

In seiner Begründung bezieht sich das Urteil auch auf die Yogyakarta-Prinzipien, die Yogyakarta-Prinzipien plus 10 und den letzten Bericht des UN-Experten zum Schutz vor Diskriminierung und Gewalt aufgrund der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität. Richterin Indu Malhotra formulierte:

„Den Mitgliedern der LSBTI*-Community und ihren Familien schuldet die Gesellschaft eine Entschuldigung, weil ihnen über die Jahre gleiche Rechte verweigert wurden.“

Das Urteil erwähnt auch die „Apology“ der britischen Premierministerin.

Am 11. Juni 2019 hob auch der High Court in Botswana das bestehende Verbot von homosexuellen Handlungen auf. Dieses bahnbrechende Urteil war der Verdienst der LSBTI-Bewegung in Botswana und vor allem der Organisation LEGABIBO (Lesbians, Gays and Bisexuals of Botswana).

Sie hatten die Klage eingereicht und den Prozess erfolgreich geführt. Die drei Richter*innen waren einstimmig der Meinung, dass die Paragrafen 164, 165 und 167 gegen die Verfassung
von Botswana verstoßen. Sie seien diskriminierend, weil sie die Würde und die Freiheit einschränkten. Grundsätzlich müsse in einem Konflikt des Rechts mit moralischen Auffassungen in der Gesellschaft dem Recht Vorrang eingeräumt werden. Die Kriminalisierung verstoße gegen das Recht auf Privatsphäre und damit gegen ein Grundrecht. Die Justiz habe sich nicht in die Wahl der Sexualpartner*innen einzumischen und unterschiedliche sexuelle Orientierungen seien menschlich und keine Modeerscheinung.

Bemerkenswert ist die Urteilsbegründung auch, weil darin auf den Ursprung der Paragrafen verwiesen wird: „Mit dem Kolonialismus wurde zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert der Straftatbestand ‚sodomy‘ in die britischen Kolonien importiert“, heißt es dort auf Seite 28.

Selbstkritische Reflexion ist unerlässlich

Wer sich aus den Ländern des Nordens für die Menschenrechte von LSBTI einsetzt, darf die Kolonial- und Verfolgungsgeschichte nicht ignorieren, sondern muss sie selbstkritisch reflektieren. Nur dann ist das Engagement glaubwürdig und überzeugend. Postkoloniale Theorie stellt sich moralisch klar auf die Seite der Nachkommen kolonisierter Bevölkerungen und ergreift ausdrücklich Partei für verletzliche Gruppen.

Sie verlangt eine ernstgemeinte Einbeziehung von People of Color sowie von migrantischen Gruppen und nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit Rassismus im Nord-Süd-Dialog. Es ist Zeit für eine postkoloniale Praxis! 

So beklagt die südafrikanische Menschenrechtsanwältin Sibongile Ndashe im Gespräch mit der Hirschfeld-Eddy-Stiftung, dass die Arbeit der Aktivist*innen vor Ort oft nahezu behindert und jeder Fortschritt an der Basis ignoriert werde, weil das zum allseits bekannten Narrativ der Homophobie in Afrika passe.

Dabei gibt es aus fast allen afrikanischen Staaten Berichte über Traditionen von Homosexualitäten und Trans*Geschlechtlichkeiten. Etwa über die YanDoud in der Hausa-Gesellschaft in Nigeria: homosexuelle Männer, deren soziales Geschlecht weiblich ist. Der nigerianische Anwalt und Autor Elnathan John zeigt in seinen Forschungen, wie Kolonisierung und Missionsbewegungen aus Europa diese Lebensformen und Traditionen gewaltsam unterdrückten.

Ein „Sonderprogramm Kulturen und Kolonialismus“ ist nötig

2021 hat die Bundesregierung ein LSBTI-Inklusionskonzept für die Entwicklungszusammenarbeit und Auswärtige Politik verabschiedet und damit eine langjährige Forderung der Yogyakarta-Allianz erfüllt.

Die Bundesregierung verpflichtet sich damit, den Schutz der Menschenrechte von LSBTI zum integralen Teil der Auswärtigen Politik und Entwicklungszusammenarbeit (EZ) zu machen. In dem Inklusionskonzept erkennt sie an, dass die „lokale Geschichte, Lebensberichte und Traditionen von LSBTI-Personen, einschließlich einschlägiger Aspekte der Missions- und Kolonialgeschichte (…) wesentliche, zu berücksichtigende Aspekte [sind]“.

Die Yogyakarta-Allianz fordert, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ein „Sonderprogramm Kulturen und Kolonialismus“ auflegt. Damit sollen die Geschichten, Lebensberichte und Traditionen der regionalen Homosexualitäten, Geschlechtlichkeiten und Gendergeschichten gesammelt und dokumentiert werden. Ausdrücklich muss dabei auch die Missionsgeschichte und die Kolonialverantwortung Deutschlands reflektiert werden. Außerdem muss ein entsprechendes Programm mit Forschenden und Universitäten in den Partnerländern begonnen werden – das ist auch für die Zusammenführung von postkolonialer Theorie und postkolonialer Praxis elementar.

Kontakt zur Yogyakarta-Allianz: sarah.kohrt@hirschfeld-eddy-stiftung.de

Das Factsheet basiert auf dem Artikel „Die Yogyakarta-Allianz: ein postkoloniales Bündnis“
von Sarah Kohrt für den Blog der Heinrich-Böll-Stiftung

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