Erfahrungen von queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland
Studien zu den Lebenslagen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans*, intergeschlechtlichen, nicht-binären und weiteren queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland
Wie lebt es sich als junger Mensch, wenn eine Person merkt, nicht heterosexuell zu sein? Oder klar wird: So wirklich passt die eigene Identität nicht zu dem von der Umwelt vermuteten Geschlecht und dem Vornamen? Wie reagieren Familie, Freund*innen oder die Mitschüler*innen und Arbeitskolleg*innen auf das Coming-out?
Hier fassen wir die Ergebnisse verschiedener Berichte und Studien zusammen, die Antworten auf diese Fragen geben.
Inhaltsverzeichnis
- Die Lage junger LSBTIQ* im 17. Kinder- und Jugendbericht (2024)
- Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung - Zur Lebenssituation von trans und nicht-binären Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland (2024)
- Coming-out und dann …?! (2015)
1. Die Lage junger LSBTIQ* im 17. Kinder- und Jugendbericht (2024)
Im von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen 17. Kinder- und Jugendbericht legt eine unabhängige Sachverständigenkommission die Lage von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie die Situation der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland dar. Der Bericht beinhaltet auch ein Kapitel zur Situation von jungen LSBTIQ*, dessen Inhalte wir hier zusammenfassen.
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Deutschland
Eine Befragung von 2019 ergab, dass sich 9% der 14- bis 15-Jährigen als nicht ausschließlich heterosexuell bezeichnen. Das entspricht bei circa 14,3 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland etwa 1,25 Millionen jungen queeren Menschen.
In Bezug auf die Anzahl junger trans* und nicht-binärer Menschen gibt es kaum gesicherte Daten. Eine repräsentative Studie zur Selbstbezeichnung ergab jedoch, dass sich 1,4% der 13- bis 17-Jährigen als trans* bezeichnen. Dies entspricht bei ca. 14,3 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland fast 200.000 jungen trans* und nicht-binären Personen. Dabei wird sich fast die Hälfte ihrer geschlechtlichen Identität schon in einem Alter von bis zu 10 Jahren bewusst (45,8%). Zwischen dem inneren und dem äußeren Coming-out vergehen jedoch bei trans* Mädchen sieben, bei trans* Jungen vier und bei genderdiversen Jugendlichen knapp drei Jahre.
Auch zur Anzahl junger intergeschlechtlicher Personen in Deutschland gibt es kaum zuverlässige Zahlen. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass ungefähr jedes 60. neugeborene Kind intergeschlechtlich ist.
Wann haben junge LSBTIQ* ihr Coming-out?
Mehr als ein Drittel (38%) der queeren jungen Menschen outen sich zwischen 14 und 16 Jahren, 28% sind bei ihrem Coming-out zwischen 18 und 21 Jahre alt und 23% sind über 22.
Dem voraus geht für viele junge LSBTIQ* meist ein längerer Prozess des inneren Coming-outs und der Bewusstwerdung über die eigene geschlechtliche und sexuelle Identität. Dieser Prozess beginnt bei trans* und nichtbinären Menschen oft schon früh in der Kindheit. So geben 27,9% von ihnen an sich ihrer geschlechtlichen Identität schon immer bewusst gewesen zu sein. Dem gegenüber berichten nur 15,9% der nicht-heterosexuellen Personen, schon immer von ihrer sexuellen Identität gewusst zu haben.
Die Reaktionen des sozialen Umfelds auf das Coming-out von jungen LSBTIQ* variieren stark. Hierbei sind Räume, die sich explizit an queere Menschen richten von großer Bedeutung.
Welche Herausforderungen stellen sich für junge LSBTIQ* in Deutschland?
- Junge LSBTIQ* erleben in zentralen Lebensbereichen wie Familie, Schule, Freizeit, Medien, Ausbildung und Arbeit immer noch strukturelle und direkte Diskriminierungen. Dies kann zur Vermeidung eines Coming-outs während der Schulzeit und zum Erleben von Minderheitenstress führen. Minderheitenstress kann wiederum zu Beeinträchtigungen der psychischen und mentalen Gesundheit führen (z.B. Depressionen, Angsterkrankungen, Alkohol- und Drogensucht, erhöhte Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten).
- Für trans* und intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche, die eine rechtliche und/oder eine medizinische Angleichung ihres Geschlechts anstreben, stellt sich die Suche nach einer passenden spezifischen Beratungsstelle durch die unzureichende Infrastruktur als sehr zeitintensiv dar.
- Im ländlichen Raum existieren kaum Angebote für junge LSBTIQ*.
- In nicht-spezialisierten Regeleinrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe unterschätzen Fachkräfte häufig die Bedeutung von Themen der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt.
Wie kann die Lage von jungen LSBTIQ* verbessert werden?
Die unabhängige Sachverständigenkommission kommt in ihrem Bericht zu dem Schluss, dass die Lebenssituation von jungen LSBTIQ* weiterhin durch Diskriminierungs-, Ausgrenzungs- und Gewalterfahrungen stark belastet ist. Um dem entgegenzuwirken, müssen die Bedarfe junger queerer Menschen stärker und systematischer in den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe berücksichtigt werden. Zudem sollten adressat*innenorientierte Angebote für junge LSBTIQ*, auch im ländlichen Raum, geschaffen werden, deren Erreichbarkeit sichergestellt werden muss.
Hier geht es zum 17. Kinder- und Jugendbericht (Kapitel 2.2.7 Jungsein in geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, S. 215-223)
2. Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung - Zur Lebenssituation von trans und nicht-binären Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland (2024)
Bisher gab es im deutschsprachigen Raum kaum Studien zu den Lebenswelten von trans* und nicht-binären Jugendlichen und jungen Erwachsenen, welche deren persönliche Erfahrungen und Sichtweisen in den Mittelpunkt stellten. Dem wirkt die Studie „Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung – Zur Lebenssituation von trans und nicht-binären Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland“ entgegen, welche vom Deutschen Jugendinstitut (Emmie Mika Stemmer, Maria Gavranić, Lisa Hasenbein, Jens Pothmann) verfasst und durch das BMFSJ gefördert wurde.
Die Studie stellt die vielfältigen Erfahrungen dar, welche junge trans* und nicht-binäre Menschen im Prozess des Erwachsenwerdens machen. Hierfür wurden bundesweit 25 problemzentrierte Interviews mit jungen trans* und nicht-binären Personen zwischen 16 und 29 Jahren geführt. Die wichtigsten Ergebnisse stellen wir hier zusammenfassend dar.
Bewusstwerdungsprozesse – Wann und wie werden sich die Jugendlichen ihrer geschlechtlichen Identität bewusst?
Allgemein ist festzustellen, dass die Bewusstwerdungsprozesse trans* und nicht-binärer Jugendlicher sehr unterschiedlich verlaufen und deshalb nicht generalisierbar sind. Denn sowohl der Zeitpunkt als auch der Ablauf der Bewusstwerdung der eigenen geschlechtlichen Identität variiert bei den befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen sehr. Die Forschenden konnten jedoch zentrale gemeinsame Elemente ausmachen, welche den Bewusstwerdungsprozess erschweren bzw. unterstützen können.
Hinderlich ist zunächst die Allgegenwärtigkeit der gesellschaftlichen Einteilung in zwei Geschlechter. Darüber hinaus stellen auch fehlende Sichtbarkeit und Vorbilder, die unzureichende Aufklärung und Sensibilisierung zu Themen der Geschlechtsidentität und -diversität in Schulen sowie Gefühle der Isolation und Erfahrungen von Ablehnung Hürden im Bewusstwerdungsprozess dar.
Unterstützung finden trans* und nicht-binäre Jugendliche und junge Erwachsene in ihrer Suche nach der eigenen Geschlechtsidentität hingegen in vorhandenen Vorbildern (z.B. in den Medien), im Austausch mit anderen queeren Personen und in einem akzeptierenden und unterstützenden sozialen Umfeld.
Zudem stellten die Forschenden fest, dass die Bewusstwerdungsprozesse der trans* und nicht-binären Jugendlichen mit einer intensiven Reflexion über Geschlecht und Identität einhergehen. Dabei setzen sich die jungen Erwachsenen in Verhältnis zu bestehenden Geschlechternormen und gesellschaftlichen Erwartungen an das Trans*-Sein. Dies kann Druck erzeugen, einem bestimmten Bild des Trans*- oder Nicht-Binär-Seins entsprechen zu müssen. Hierdurch kann erheblicher emotionaler Stress ausgelöst werden.
Welche Erfahrungen machen trans* und nicht-binäre junge Menschen mit verschiedenen Transitionsschritten?
Allgemein wird festgestellt, dass die Erfahrungen, die die befragten trans* und nichtbinären jungen Erwachsenen bereits mit verschiedenen Transitionsschritten gemacht haben, sehr vielfältig sind. Dies ist ein Ausdruck davon, dass trans* und nicht-binäre junge Erwachsene die Entscheidungen für soziale, rechtliche und medizinische Transitionsschritte nicht überstürzt oder leichtfertig treffen. Stattdessen geht den Entscheidungen eine lange Phase der Selbstreflexion und Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsdysphorie, persönlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Erwartungen voraus. Dabei Suchen die jungen Menschen auch Unterstützung von psychologischen Fachkräften und denken sorgfältig über die für sie persönlich richtigen Schritte und deren Auswirkungen, Nebenwirkungen und Risiken nach.
In Bezug auf medizinische Transitionsschritte berichten die jungen Erwachsenen von großen Mängeln in der medizinischen Versorgungslandschaft. So komme es durch ein zu geringes Angebot an trans*-spezifischen Behandler*innen zu langen Wartezeiten. Da die Krankenkassen manche Leistungen nicht übernehmen, müssen diese selbst gezahlt werden, was zu finanziellen Belastungen führt. Zudem führt eine unübersichtliche bzw. fehlende Informationslage zum Thema medizinische Transition dazu, dass sich viele der jungen Menschen die Informationen selbst beschaffen müssen.
Auch der Prozess der Begutachtung von medizinischem Fachpersonal wird als sehr fremdbestimmt erlebt. Die Jugendlichen haben den Eindruck, dass dabei kein sicherer Raum für Unsicherheiten und Zweifel bestehe, weswegen vor allem nicht-binäre Jugendliche den Druck verspüren ihre Erfahrungen an binäre Erwartungen anpassen zu müssen, um bestimmte Leistungen zu erhalten.
Die Erzählungen über die körperlichen Auswirkungen der bereits in Anspruch genommenen medizinischen Maßnahmen sind jedoch grundsätzlich sehr positiv. Die Forschenden identifizieren darin Geschlechtseuphorien, womit sie positive Gefühle bezüglich des eigenen Körpers und der Geschlechtsidentität beschreiben.
Welche positiven und negativen Erfahrungen machen trans* und nicht-binäre Jugendliche in ihrem Alltag?
Negative Erfahrungen:
- Diskriminierung im öffentlichen Raum: Viele der befragten trans* und nicht-binären Jugendlichen und jungen Erwachsenen berichten von Erfahrungen subtiler und direkter Abwertungen, Beleidigungen, Gewalt, sozialer Ausgrenzung oder anderen Formen der Diskriminierung durch Fremde. Dies hat oft zur Folge, dass die jungen Menschen aus Angst vor weiteren Diskriminierungserfahrungen bestimmte soziale Orte und Kontakte meiden.
- Konflikte in persönlichen Beziehungen: Viele der interviewten trans* und nicht-binären jungen Menschen erzählen von schwierigen und konflikthaften Beziehungsdynamiken mit den Eltern und im Freundeskreis nach ihrem Coming-out sowie von Ausgrenzung und Mobbing innerhalb der Klassengemeinschaft.
- Transfeindliche Diskurse: Die zunehmende Transfeindlichkeit in der Gesellschaft und vor allem transfeindliche Diskurse in sozialen Medienlösen lösen bei den trans* und nicht-binären Jugendlichen und jungen Erwachsenen starke Ängste und Unsicherheiten über die Zukunft aus.
- Psychische Belastungen: Diskriminierungserfahrungen, mangelnde Unterstützung und Anerkennung durch das soziale Umfeld, Gefühle der Andersartigkeit sowie Ängste über die Zukunft führen bei vielen der trans* und nicht-binären jungen Menschen zu Gefühlen von Scham und Selbstablehnung sowie zu Ängsten, psychischen Belastungen und Suizidalität.
Positive Erfahrungen:
- Trans*-Sein als positive Ressource: Das eigene Trans*- bzw. Nicht-Binär-Sein stellt für die befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen auch eine positive und wertvolle Ressource der Selbsterkenntnis und -ermächtigung sowie eine Quelle von Freude und positiven Gefühlen und Erfahrungen dar.
- Zugehörigkeit und Gemeinschaft in trans* und queeren Communities: Die trans* und nicht-binären Jugendlichen finden in trans* und queeren Communities einen Raum für neue Erfahrungen und den Austausch mit Gleichgesinnten über Informationen und Erfahrungen. Dies trägt zu einem neuen, positiven Lebensgefühl bei. Solche Räume stellen Jugendgruppen, aber auch Communities im Internet dar.
- Akzeptanz und Unterstützung durch Freundschaften und Familie: Unterstützende Familienmitglieder und Freundschaften (v.a. auch zu anderen trans* Personen) stärken das Gefühl der Selbstannahme sowie der eigenen Akzeptanz und erleichtern dadurch das Coming-out. Viele der befragten jungen Menschen bauen sich ein solches fürsorgliches und unterstützendes Umfeld aktiv selbst auf.
Wie kann die Lebenssituation von trans* und nicht-binären jungen Menschen verbessert werden?
Basierend auf den Studienergebnissen geben die Autor*innen Empfehlungen für die Politik, Fachpraxis und weitere Akteur*innen, um die Lebenssituation von trans* und nicht-binären jungen Menschen zu verbessern.
Es braucht:
- eine entdramatisierte, realistische und unaufgeregte Darstellung und Sichtbarkeit von trans* und nicht-binären Lebensentwürfen in Medien, Öffentlichkeit und kulturellen Angeboten
- inklusive Räume, in denen trans* und nicht-binäre Jugendliche selbstbestimmt agieren können, wie queere Jugendgruppen, AGs in Schulen oder online Angebote
- ein Selbstbestimmungsgesetz
- eine Verbesserung der medizinischen Versorgungslandschaft durch einheitlich geregelte, transparente sowie niederschwellig zugängliche medizinische Betreuung für trans* und nicht-binäre Personen und umfassende Fortbildungsangebote für medizinisches Fachpersonal zu den besonderen Bedürfnissen trans* und nicht-binärer Menschen
- die Förderung einer vielfaltssensiblen und selbstbestimmungsorientierten sexuellen und geschlechtlichen Aufklärung an Schulen, die queere, trans* und nicht-binäre Perspektiven mit einbezieht
- konkrete Maßnahmen zur Erleichterung des Alltags von trans* und nicht-binären Schüler*innen wie die Sensibilisierung von Lehrkräften und pädagogischem Fachpersonal, Konfliktlösungs- und Anti-Mobbing-Programmen sowie qualifizierte Schulpsycholog*innen und (Schul-)Sozialarbeiter*innen
- eine zielgruppenorientierte Beratungslandschaft mit ergebnisoffenen Beratungsangeboten und Selbsthilfegruppen
3. Coming-out und dann…? (2015)
„Coming-out und dann …?!“ von Claudia Krell und Kerstin Oldemeier ist die erste deutschlandweite Studie zu den Erfahrungen von queeren Jugendlichen. Rund 5.000 Jugendliche nahmen für das vom Familienministerium geförderte Forschungsprojekt des Deutschen Jugendinstituts an einer Onlinebefragung teil. 40 von ihnen wurden anschließend auch in Einzelinterviews befragt.
Coming-out in einer heteronormativen Gesellschaft
Natürlich haben queere Jugendliche die gleichen Herausforderungen und Konflikte zu bewältigen wie andere Jugendliche auch: Wer bin ich und wer will, darf und kann ich sein? Zwischen schulischen, familiären und gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen verändern sich Freundschaften und die Beziehungen zu den Eltern, werden erste Beziehungen gelebt und wird sich ausprobiert, nach Individualität und Gemeinschaft gesucht, Anerkennung und Gruppendruck erfahren.
Zugleich müssen sich queere Jugendliche mit dem gesellschaftlichen Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt auseinandersetzen. Dieser ist auch 2015 neben zunehmender Akzeptanz auch von lautstark verkündeter Ablehnung geprägt. Das heißt queere Jugendliche erleben ihr Coming-out und gegebenenfalls ihre Transition in einer nach wie vor heteronormativen Gesellschaft und müssen daher Antworten auf etwaige Diskriminierungserfahrungen finden.
Inneres Coming-out: Viele wissen „es“ bereits als unter 14-jährige
Während ungefähr jede*r Vierte den Zeitpunkt der Selbsterkenntnis nicht genau zu nennen vermag, waren sich 50 % der Befragten bereits mit mindestens 14 Jahren darüber klar, dass sie mit ihren Gefühlen den allgegenwärtigen Erwartungen nicht entsprechen können und/oder wollen. Für sehr viele beginnt das innere Coming-out, die eigene Bewusstwerdung, folglich bereits in der Grundschule oder zu Beginn der Pubertät.
Dieser Prozess der Identitätsfindung wird mehrheitlich als mittel bis schwierige Zeit beschrieben. Diese Zeit der Belastungen, Ängste, Verdrängung und Rückzug muss auf sich allein gestellt bewältigt werden. Drei von vier der Befragten haben Angst vor Ablehnung durch Freund*innen, sieben von zehn befürchten negative Reaktionen der Familie, 61% gehen von problematischen Konsequenzen in der Schule oder am Ausbildungs-/Arbeitsplatz aus.
Äußeres Coming-out: Freund*innen, Schule und Familie - Vor wem wird sich wann geoutet
In der Regel vergehen mehrere Monate, oftmals auch Jahre, zwischen dem inneren Coming-out und dem ersten äußeren Coming-out. Oftmals wird genau geplant, wem man sich wo und wann wie outet. Jemandem von ihren Gefühlen und ihrer Identität zu erzählen – das tun Lesben, Schwule und Bisexuelle durchschnittlich erstmalig mit 17 Jahren, trans* Menschen mit ungefähr 18 Jahren. Ist bei letzteren zusätzlich der Wunsch eine Transition zu beginnen eine Motivation, wollen die meisten endlich mit jemandem reden und sich nicht länger verstecken.
Freundeskreis
Das erste Coming-out ist dann oftmals vor jemanden aus dem Freundeskreis. Zwar erleben danach 41 % negative Situationen, jede*r Dritte wird nicht ernst genommen und jeder siebente wird ausgegrenzt, trotzdem wird überwiegend von guten bis sehr guten Reaktionen berichtet. Befürchtungen bestätigen sich also oftmals nicht.
Familie
Sich vor der Familie zu outen fällt den meisten Befragten am schwersten und meistens wird zuerst die Mutter eingeweiht. Hier befürchten und riskieren LSBTIQ* auch am meisten. Denn neben der oftmals emotionalen Verbundenheit sind sie als Jugendliche zum Beispiel auch finanziell und rechtlich von ihren Eltern oder Familienangehörigen abhängig. Zwar werden die familiären Reaktionen auf das Coming-out tendenziell auch negativer als die der Freund*innen bewertet, dennoch wird die Familie auch sehr oft als Ort der Unterstützung und Anerkennung beschrieben. Nichtsdestotrotz berichtet die Hälfte von Diskriminierungserlebnissen, 17 % wurden beschimpft, beleidigt oder belächelt, jede*r zehnte ausgegrenzt und ausgeschlossen.
Schule
An der Schule wird ein Coming-out möglichst vermieden. Zu groß sind die Befürchtungen vor negativen Konsequenzen, schließlich hat ein (guter) Schulabschluss erhebliche Auswirkungen auf die Zukunft.
Die Erfahrung von Befragten macht dieses Vermeidungsverhalten nur allzu gut verständlich: Jede*r Zweite wurde beschimpft oder beleidigt, jede*r Vierte gegen den eigenen Willen geoutet, jede*r Zehnte berichtet von körperlicher Gewalt. Lediglich knapp über die Hälfte gibt an, dass sie erlebt haben, dass Lehrkräfte homo- bzw. transphobe Schimpfwörter oder ein Mobbing aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität nicht dulden. Die meisten wünschen sich zudem mehr Informationen und Sichtbarkeit von LSBTIQ*-Lebensweisen im Unterricht: Die selbstverständliche und unaufgeregte Mitbenennung in Fächern wie Mathematik oder Englisch, eine umfassendere Thematisierung in Fächern wie etwa Ethik, Biologie und Sozialkunde.
Für die meisten der befragten trans* Menschen beginnt nach dem Coming-out die Transition. Nur circa 20 % wollen oder können keine hormonellen und/oder operativen Maßnahmen anstreben. Beinah die Hälfte erlebt die notwendige psychologische Begutachtung als belastendes Verfahren. Für viele ist zudem der erste Kontakt mit Ärzt*innen oder Therapeut*innen angesichts deren fehlender Kompetenz ernüchternd und ein hartnäckiges und aktives Einfordern von Bescheiden bei der Krankenkasse notwendig.
Informieren, vermeiden und verarbeiten – Zum Umgang mit Diskriminierungserfahrungen
Eine der wichtigsten Handlungsstrategien ist, sich Informationen und Rückhalt zu suchen. Internet und andere Medien sind die Informationsquelle schlechthin. Hier lassen sich anonym und heimlich Informationen suchen und Kontakte knüpfen. Beinah alle kennen LSBTIQ*-spezifische Angebote, müssen sich aber zugleich mit der Flut an unterschiedlichen bis auch falschen Informationen auseinandersetzen. Wesentlich mehr kennen als nutzen LSBTIQ*-spezifische Freizeit- und Beratungsangebote. Unsicherheit, was sie erwartet, oder auch die schwere Erreichbarkeit sind entscheidende Hindernisse. Trans* Menschen berichten leider auch von schlechten Erfahrungen, die sie dort machen mussten.
Bestimmte Dinge und Verhaltensweisen zu unterlassen, ist eine übliche Strategie, um Diskriminierung zu vermeiden: So wird sich nicht im Sportverein angemeldet oder Schwimmen gegangen, sich in der Öffentlichkeit nicht als gleichgeschlechtliches Pärchen gezeigt, bestimmte Orte nicht aufgesucht oder heteronormative Vorannahmen nicht berichtet. Der öffentliche Raum bleibt dennoch ein Ort, an dem acht von zehn der Befragten Diskriminierung erfahren haben, hier trifft es nochmal deutlich mehr trans* Personen.
Selbstverständlich unterscheiden sich queere Jugendliche untereinander. Ihre (Diskriminierungs-)Erfahrungen werden durch weitere Faktoren wie etwa Hautfarbe, Staatsbürgerschaft, Wohnort oder soziale Herkunft geprägt. Diese Verwobenheit unterschiedlicher Identitätsmerkmale und Einflussfaktoren soll in der für 2016 geplanten Publikation ausführlich dargestellt werden.
Um Diskriminierungserlebnisse generell zu verarbeiten, relativieren oder legitimieren die Befragten diese Erlebnisse und geben an, sich an manches bereits gewöhnt zu haben und folglich abgehärtet zu sein. Das kann jedoch keine Alternative sein, vielmehr besteht gesellschaftlicher und politischer Handlungsbedarf für gleiche Rechte, Vielfalt und Respekt.
Handlungsbedarf für gleiche Rechte, Vielfalt und Respekt
Zum Abschluss formulieren Krell und Oldemeier klare Handlungsbedarfe, um die Lebenssituation von queeren Jugendlichen zu verbessern: Der souveräne und wertschätzende Umgang mit der Vielfalt von geschlechtlicher und sexueller Identität muss Eingang in die Freizeit- und Beratungsstruktur sowie die allgemeine Jugendarbeit finden. Die Akzeptanz gilt es proaktiv in der Schule sowie am Arbeits- und Ausbildungsplatz zu fördern. Das Angebot in den digitalen Medien muss ausgebaut werden, um niedrigschwellige und anonym erreichbare Informationen und Beratung zu ermöglichen. Zudem muss die Mehrheitsgesellschaft angesprochen werden, um Homo- und Transfeindlichkeit abzubauen und ein offenes, angstfreies und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Dazu gehört neben der Inklusion von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung auch die Entpathologisierung und rechtliche Anerkennung und Gleichstellung.
Hier geht es zur Studie „Coming-out und dann …?!“ von Claudia Krell und Kerstin Oldemeier.
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