Erinnern warum?
Die Bundestagsgedenkstunde am 27.01.2023: ein geschichtspolitisches Coming-out
Es war ein denkwürdiger Tag: Am 27. Januar 2023, dem „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“, gedachte der Deutsche Bundestag erstmals der queeren Opfer des Nationalsozialismus – und verschwieg dabei nicht, dass auch die Bundesrepublik in ihrer
Geschichte queere Menschen diskriminiert und verfolgt hat – eine Premiere in der Erinnerungskultur.
Queere Menschen sind in Öffentlichkeit und Politik zwar mittlerweile sichtbar und werden mehr und mehr selbstverständlicher Teil der Gegenwart. Das laute und selbstbewusste „Ich bin schwul – und das ist auch gut so“ von Klaus Wowereit im Jahr 2003, das viel leisere, aber mindestens genauso selbstbewusste Coming-out von Barbara Hendricks im Jahr 2013 oder das Coming-out von Georgine Kellermann 2019 als trans* Frau zeigen, dass queere Menschen das Recht auf Sichtbarkeit einfordern. Das sind Erfolgsgeschichten.
„Selbstverständlicher Teil der Gegenwart“ heißt für queere Menschen natürlich noch immer, dass es der mutigen Praktik eines Coming-outs bedarf, um sichtbar zu werden. Erfolgreiche Coming-out-Geschichten sind immer auch Geschichten eines vorherigen Versteckt-Seins. Und es ist paradox: Queere Menschen sind in den vergangenen Jahren in der öffentlichen Gegenwart angekommen, aber jetzt erst werden sie sehr langsam zu Menschen mit Geschichte. Der allmählichen und zögerlichen Anerkennung in der Gegenwart folgt damit die Anerkennung als Menschen mit einer Geschichte, die gehört, geschrieben und hoffentlich immer kontrovers und neu ausgehandelt wird.
Vor diesem Hintergrund kann die Gedenkstunde vom 27. Januar 2023 als ein geschichtspolitisches Comingout bezeichnet werden. Denn an diesem Tag machte der Deutsche Bundestag sichtbar und öffentlich, dass auch die Verfolgung queerer Menschen Teil der offiziellen deutschen Geschichts- und Erinnerungskultur ist. Es dürfte schwerfallen, hinter einen solchen Schritt wieder zurückzufallen. Damit wurde aber nicht der harmonische Endpunkt einer Auseinandersetzung mit queerer Geschichte geschrieben, sondern ein hart erkämpfter erster Etappensieg. Und in der Tat hat es einen langjährigen Einsatz queerer Aktivist*innen gebraucht, um zu einem solchen geschichtspolitischen Coming-out zu gelangen.
Was können wir daraus lernen? Erstens vielleicht: Do it yourself! – Wer darauf wartet, dass es der Mehrheitsgesellschaft irgendwann von selbst einfällt, mit der Diskriminierung und Verfolgung queerer Menschen aufzuhören, der oder die ist ausgesprochen schlecht beraten. Genauso schlecht beraten sind diejenigen, die darauf warten, dass es der Mehrheitsgesellschaft von selbst einfällt, marginalisierte Gruppen in den hegemonialen Gedenkkonsens aufzunehmen. Mir zumindest sind keine Beispiele bekannt, in denen es nicht der hartnäckigen
Initiative der „Betroffenen“ selbst zu verdanken wäre, dass das Gedenken an ihre Geschichte Eingang in die „allgemeine“ Erinnerungskultur genommen hat.
Und zweitens vielleicht: Sei stolz und undankbar! Der 27. Januar 2023 war ein wichtiger Tag für queere Menschen, auf den es sich lohnt, stolz zu sein. Zu hoffen bleibt, dass die queere Community dabei nicht in die Falle eines bundesdeutschen Wiederaufarbeitungspatriotismus tappt. Denn: die Bundesrepublik hat insgesamt einfach viel zu lange gebraucht, um sich vom Nazi-Unrecht gegen queere Menschen zu verabschieden. Sie hat die Opfer spät rehabilitiert und zu lange eine öffentliche Anerkennung des Unrechts verweigert. Das ist nach wie vor Grund genug, noch immer sehr undankbar zu sein.
Prof. Dr. Martin Lücke,
Professor für Geschichte, FU Berlin
Dieser Text ist in der aktuellen Respekt-Zeitschrift vom Juli 2023 erschienen. Hier kannst du unser Mitgliedermagazin einfach per PDF downloaden.