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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Von 1933 bis heute: Lesben und Schwule in Deutschland und der DDR

Unterdrückung und Emanzipation: Zur Geschichte der Verfolgung Homosexueller in Deutschland

Unterdrückung und Emanzipation: Zur Geschichte der Verfolgung Homosexueller in Deutschland: Lesben und Schwule im Nationalsozialismus, in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland

Vier Bücher zur Verfolgung Homosexueller in Deutschland Lesben und Schwule im Nationalsozialismus, der DDR und der Bundesrepublik

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich seit ihren Anfängen 1949 in vielen Bereichen wesentlich verändert. Das gilt in ganz besonderem Maße für die gesellschaftlichen Moralvorstellungen und die Einstellung der Gesellschaft zur Homosexualität. Lesben und Schwule im Nationalsozialismus, der DDR und in der Bundesrepublik. Eine kurze Geschichte zur Verfolgung Homosexueller in Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

  1. Homosexuelle zur Zeit des Nationalsozialismus
  2. Die 1950er Jahre: unterschiedliche Entwicklung in der DDR und der BRD
  3. Das ungeheurliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts (1957): § 175 StGB verstößt nicht gegen das Grundgesetz
  4. Die 1960er Jahre: Vorsichtige Entkriminalisierung
  5. Die neuen Jugendschutzvorschriften: Unterschiedliche Schutzalter für Hetero- und 
  6. Lesben und Schwule in den 1970er Jahren
  7. Die 1980er Jahre: Das Aufkommen von AIDS
  8. Die 1990er Jahre: Zunehmende Anerkennung von Lesben und Schwulen
  9. Erste Diskussionen über die Öffnung der Ehe für Lesben und Schwule
  10. Kampf um das Lebenspartnerschaftsgesetz (2001): Erstmals wurden gleichgeschlechtliche Paare rechtlich anerkannt
  11. Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2002: Lebenspartnerschaftsgesetz ist nicht verfassungswidrig und mit Artikel 6 GG vereinbar
  12. Von 2002 bis 2013: Klagen von Lebenspartner*innen - mehrere Verfassungsgerichtsurteile fordern die Gleichstellung
  13. "Ehe für Alle" - Das Eheöffnungsgesetz
  14. Die Rehabilitierung der wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Männer
  15. Ausblick: LSBTI heute

1. Homosexuelle zur Zeit des Nationalsozialismus

Im nationalsozialistischen Deutschland fand auch eine Homosexuellenverfolgung ohne gleichen in der Geschichte statt. Lebenswelten wurden zerschlagen, schwule und lesbische Lokale, Vereine, Verlage sowie Zeitschriften verboten. Zehntausende schwuler Männer wurden nach § 175 Reichstrafgesetzbuch wegen „Unzucht“ zu Gefängnis oder Zuchthaus verurteilt, mehrere tausend Schwule wegen ihrer Homosexualität in Konzentrationslager verschleppt. Die meisten überlebten die Lager nicht. Weibliche Homosexualität war gesellschaftlich geächtet und widersprach dem „gesunden Volksempfinden“. Auch lesbische Frauen litten im „Dritten Reich“, konnten nicht offen und frei leben. 

Bis 1935 wurden homosexuelle Männer in Deutschland nach § 175 StGB "nur" bestraft, wenn sie sogenannte "beischlafsähnliche Handlungen" vorgenommen hatten. Dafür musste den Männern Oral- bzw. Analsex nachgewiesen werden. Dieser Nachweis war schwierig, wenn es keine Zeugen gab und die Männer übereinstimmend behaupteten, sie hätten keine strafbaren sexuellen Handlungen vorgenommen. Die Anzahl der Verurteilten war demgemäß verhältnismäßig gering.

Das änderte sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Die Nationalsozialisten hielten Homosexualität für eine „widernatürliche Veranlagung“, für eine den so genannten „Volkskörper“ schädigende „Seuche“, die „auszurotten“ sei. Schon kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wurden im März 1933 die lesbischen und schwulen Lokale Berlins geschlossen. Die vollständige Infrastruktur der ersten deutschen Homosexuellenbewegung, Lokale, Vereine, Verlage sowie Zeitschriften wurden aufgelöst, verboten, zerschlagen und zerstört.

Im Herbst 1934 setzte die systematische Verfolgung homosexueller Männer ein. Die Nazis veränderten 1935 den Wortlaut des § 175 StGB so, dass nunmehr alle sexuelle Handlungen strafbar waren. Bald wurden selbst Zungenküsse bestraft, später reichte allein eine „wollüstige Absicht“ zum Schuldspruch.

Zwischen 1935 und 1944 wurden rund 50.000 Urteile nach dem NS-Paragrafen 175 gefällt. Insgesamt waren etwa 10.000 Homosexuelle in den NS-Konzentrationslagern inhaftiert, in die sie in der Regel erst nach Verbüßung ihrer Gefängnis- oder Zuchthausstrafe eingewiesen wurden. In den Konzentrationslagern wurden sie besonders gekennzeichnet, zunächst unter anderem mit einem großen A wie im KZ Lichtenburg, später, nach Einführung einheitlicher Häftlingskategorien ab etwa 1938, mit dem „Rosa Winkel“. Hunderte schwuler Männer wurden auf gerichtliche Anordnung hin kastriert.

Zur Situation von Lesben im Nationalsozialismus sind viele Fragen weiterhin offen: zu Unterdrückung und Verfolgung und grundlegend zu ihrem Leben in einem „Männerstaat“, der Frauen aus dem öffentlichen Leben drängte, sie ideologisch auf die Mutterrolle festlegte und ihnen zumindest in den ersten Jahren ab 1933 durch Einschränkungen der Berufstätigkeit die eigenständige Existenzsicherung außerhalb einer Ehe erschwerte. Es gilt, Mechanismen und Praktiken von Unterdrückung und Verfolgung zu untersuchen: das bedrängte und eingeschränkte Leben in einer Diktatur, die Selbstorganisation und Möglichkeiten der Selbstartikulation in Medien und Kunst zerschlug und die eine scharfe Sozialkontrolle, unterstützt von der Denunziationsbereitschaft zahlreicher williger Helfer etablierte. Es gibt großen Forschungsbedarf. 

Ein weiteres noch wenig erforschtes Feld ist die Situation von transgeschlechtlichen Menschen im Nationalsozialismus. Aber auch die Erforschung der Geschichte homosexueller Männer im Nationalsozialismus ist längst noch nicht abgeschlossen, trotz vieler verdienstvoller Veröffentlichungen. Diese sind aber oft außerhalb der universitären Geschichtswissenschaft entstanden. Die Geschichte von LSBTI wird dort immer noch viel zu oft als Rand- und Fußnotenthema betrachtet. Der LSVD fordert die Geschichtswissenschaft auf, hier inklusive Ansätze zu verfolgen. Er fordert von Bund, Länder und Kommunen, ausreichend Mittel für die Erforschung und Vermittlung der Geschichte von LSBTI zur Verfügung zu stellen.

Lange Zeit blieben die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus aus der Gedenkkultur ausgeschlossen – in der Bundesrepublik wie in der DDR. Der Bundestag sollte den „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ am 27. Januar auch ein Mal den homosexuellen Verfolgten widmen.

2. Die 1950er Jahre: unterschiedliche Entwicklung in der DDR und der BRD

Einen konsequenten Schlussstrich unter nationalsozialistisches Unrecht bedeutete der 8. Mai 1945 nicht. Nach dem Zusammenbruch 1945 verlief die Entwicklung in der DDR und in der BRD sehr unterschiedlich. 

Die staatliche Verfolgung Homosexueller unter dem von den Nationalsozialisten verschärften § 175 ging in der Bundesrepublik bis 1969 unverändert weiter und übertraf bei weitem die Zahl der Verurteilungen während der Weimarer Republik. Auch in Ostdeutschland urteilten viele Gerichte nach dem NS-Gesetz, bevor das Oberste Gericht der DDR 1950 entschied, dass die Weimarer Fassung des Paragrafen anzuwenden sei. Ab Ende der 1950er Jahre wurden homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen in der DDR nicht mehr strafrechtlich verfolgt.

Lesben und Schwule in der DDR

In der DDR war man der Meinung, dass Homosexualität eine Erscheinung des absterbenden Kapitalismus sei und dass sie nach der Überwindung des Kapitalismus ebenfalls verschwinden werde. 1950 entschied das Oberste Gericht der DDR, dass die Verschärfung des § 175 StGB durch die Nationalsozialisten nationalsozialistisches Unrecht sei. Die Vorschrift gelte deshalb nur in der alten Fassung und Auslegung weiter.

Infolgedessen wurden in der DDR wie in der Weimarer Republik nur noch beischlafsähnliche homosexuelle Handlungen bestraft. Außerdem konnten die Staatsanwaltschaften seit 1957 von der Strafverfolgung einer Tat absehen, wenn die Tat nicht als gesellschaftsgefährlich anzusehen sei. Davon machten die Staatsanwaltschaften bei Verstößen gegen den § 175 StGB oft Gebrauch. Die Zahl der Verurteilten ist deshalb sehr gering.

Über die Zahl der Verurteilungen in der DDR gibt es divergierende Aussagen. Der Fachbeirat der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld geht in seiner Uracher Erklärung vom 28.06.2016 von 4.300 Verurteilungen aus. Andere meinen, dass diese Zahl zu hoch sei.

Homosexuelle wurden aber weder durch das sozialistische Regime noch durch die Gesellschaft akzeptiert oder wenigstens geduldet. Sie konnten sich nicht outen, ohne ausgeschlossen und diskriminiert zu werden.

Lesben und Schwule in der frühen Bundesrepublik

In der BRD verlief die Entwicklung ganz anders. Das erste Jahrzehnt der Bundesrepublik war eine Zeit der Restauration. Man hat sich von den Verbrechen des deutschen Volkes während des NS-Regimes dadurch abgegrenzt, dass man die kleinbürgerliche Moral der Kaiserzeit wiederbelebte. Demgemäß galt in den fünfziger Jahren das christliche Moralgebot, dass Sexualität nur in der Ehe stattfinden dürfe, ganz unangefochten. Vor- und nachehelicher Sex sowie "ehebrecherische" Beziehungen galten als unsittlich und waren streng verpönt. Wer dagegen verstieß, wurde sozial geächtet und unter Umständen sogar bestraft.

Die Kirchen und der Staat betrachteten die "Wahrung der Sittlichkeit" als ihre gemeinsame Aufgabe. Deshalb sicherte der Staat die sittlichen Forderungen der Kirchen durch seine Strafgesetze ab. So wurde z.B. das Zusammenleben nichtehelicher Paare durch die Strafvorschriften über die Kuppelei pönalisiert. Aus diesem Grund konnte damals kein Hotelier oder Vermieter einem unverheirateten Paar ein Zimmer oder eine Wohnung vermieten, ohne sich strafbar zu machen.

Homosexualität galt natürlich ebenfalls als unsittlich. Deshalb hat die junge Bundesrepublik die nationalsozialistische Verfolgung der Homosexuellen bruchlos fortgesetzt und die Homosexuellen bis Mitte der sechziger Jahre unbarmherzig verfolgt. Die von den Nazis verschärften Strafvorschriften wurden beibehalten und exzessiv angewandt. Homosexuelle, die die nationalsozialistischen Konzentrationslager überlebt hatten, wurden zur Fortsetzung der Strafverbüßung wieder eingesperrt. Man setzte - wie zu Zeiten der Nationalsozialisten - alles daran, die Homosexuellen aufzuspüren und "unschädlich" zu machen. Wenn jemand auffiel, durchkämmte man seinen gesamten Bekanntenkreis.

Die "Rosa Listen" der Nazis wurden von der Polizei der Bundesrepublik bis in die achtziger Jahre fortgeführt. Die Strafen für überführte Homosexuelle waren gnadenlos hoch. Die Verurteilung bedeutete für sie zugleich der sozialen Tod. Nicht wenige Homosexuelle, die die Verfolgung der Nazis überlebt hatten, sind in den fünfziger Jahren aus Verzweiflung über diese Verfolgungspraxis freiwillig aus dem Leben geschieden.

Das Ausmaß der Verfolgung wird deutlich, wenn man sich die Strafverfolgungsstatistiken anschaut. Seit 1950 stieg die Zahl der Verurteilten von knapp 2.000 kontinuierlich an und erreichte im Jahre 1959 mit mehr als 3.500 ihren Höhepunkt. Allein in den ersten fünfzehn Jahren wurden in der Bundesrepublik insgesamt fast 45.000 Personen verurteilt.

Ein Vergleich mit den Verurteilungszahlen für die fünfzehn Jahre des Bestehens der Weimarer Republik von 1918 bis 1932 macht den Verfolgungseifer deutlich: Während in Weimar insgesamt 9.375 Personen verurteilt worden sind, hat sich die Zahl der Verurteilten unter dem Schutz des Grundgesetzes mehr als vervierfacht. Dabei zeigt die Polizeistatistik für die Bundesrepublik Deutschland, dass nur etwa jeder vierte Fall von Homosexualität, der der Polizei gemeldet wurde, abgeurteilt worden ist. Die Statistik gibt 7.100 "gemeldete Fälle" für das Jahr 1953 an, die bis zum Jahre 1959, dem Höhepunkt der Verfolgung, auf rund 8.700 anstiegen und insgesamt für den Zeitraum von 1953 bis 1966 zusammen mehr als 100.000 betrugen. Wer von der Polizei als homosexuell erfasst wurde, verlor ebenfalls seine bürgerliche Existenz.

Nach Schätzungen, die sich in der Wissenschaft etabliert haben, ist davon auszugehen, dass auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik zwischen 1949 und 1994 etwa 64.000 Männer nach den §§ 175, 175a StGB verurteilt worden sind, davon etwa 50.000 bis 1969.

3. Das ungeheurliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts (1957): § 175 StGB verstößt nicht gegen das Grundgesetz 

Diese Verfolgungspraxis ist vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 10.05.1957 (BVerfGE 6, 389) gebilligt worden.

Der 1935 verschärfte § 175 StGB ist kein "nationalsozialistisches Unrecht"

In dem Verfahren ging es zunächst um die Frage, ob es sich bei der von den Nazis verschärften Fassung des § 175 StGB um typisch nationalsozialistisches Unrecht handelt. Die Beschwerdeführer hatten geltend gemacht, die neuen Bestimmungen seien nur als Ausfluss der nationalsozialistischen Rassenlehre verständlich; sie enthielten in so hohem Maße nationalsozialistisches Gedankengut, dass sie in einer freien Demokratie nicht mehr angewandt werden dürften.

Dem hat das Bundesverfassungsgericht entgegengehalten, dass nach Art. 123 Abs. 1 GG Recht aus der Zeit vor dem Zusammentritt des Bundestages fort gilt, soweit es dem Grundgesetz nicht widerspricht. Es komme deshalb nicht darauf an, ob die §§ 175, 175 a StGB nationalsozialistisch geprägtes Recht seien, sondern nur darauf, ob die Bestimmungen mit den Grundsätzen eines freiheitlich demokratischen Staates unvereinbar sind.

§ 175 StGB verstößt nicht gegen Gleichbehandlungsgebot (Art. 3)

Insoweit hatten die Beschwerdeführer geltend gemacht, die Tatsache, dass nur schwule Männer, nicht aber auch lesbische Frauen bestraft würden, verstoße gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG.

Das Bundesverfassungsgericht hat dazu gemeint (BVerfGE 6, 389 431, 432), dass „die Eigenart der Frau als weibliches Geschlechtswesen und die Eigenart des Mannes als männliches Geschlechtswesen den Tatbestand so wesentlich und so entscheidend verschieden prägen, dass das vergleichbare Element, die anormale Wendung des Triebes auf das eigene Geschlecht, zurücktritt und lesbische Liebe und männliche Homosexualität im Rechtssinne als nicht vergleichbare Tatbestände erscheinen.“

§ 175 StGB verstößt nicht gegen Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2)

Das Bundesverfassungsgericht verneinte auch einen Verstoß gegen das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, da homosexuelle Betätigung gegen das Sittengesetz verstoße und nicht eindeutig festgestellt werden könne, dass jedes öffentliche Interesse an ihrer Bestrafung fehle.

Zur Begründung hat das Bundesverfassungsgericht darauf verwiesen (BVerfGE 6, 389, 434, 435), dass "die öffentlichen Religionsgesellschaften, insbesondere die beiden großen christlichen Konfessionen, aus deren Lehren große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen, die gleichgeschlechtliche Unzucht als unsittlich verurteilen“.

Das Urteil ist ein Musterbeispiel für vorurteilsgeprägte Rechtsprechung. Es hat dazu geführt, dass die wütende Strafverfolgung homosexueller Männer in der alten Bundesrepublik bis in die 60iger Jahre hinein fortgeführt wurde, und es hat die Emanzipationsbewegung der deutschen Homosexuellen – im Vergleich zu Skandinavien und den Niederlanden – um Jahrzehnte zurückgeworfen.

4. Die 1960er Jahre: Vorsichtige Entkriminalisierung

Die strafrechtliche Verfolgung der Homosexuellen dauerte, wie erwähnt, bis in die 1960er Jahre hinein an. Erst der Aufstand der Studenten und der Jugend gegen die miefige Moral ihrer Eltern bewirkte eine Änderung des öffentlichen Bewusstseins. Das pflegt man als "sexuelle Revolution" zu bezeichnen. Sie hatte zur Folge, dass dem Staat die Befugnis abgesprochen wurde, die "sittliche Ordnung" mit den Mitteln des Strafrechts zu verteidigen. Er sollte nur noch bei sozialschädlichen Handlungen strafen dürfen.

Deshalb wurde die Strafbarkeit homosexueller Handlungen unter Erwachsenen in der DDR 1968 und in der Bundesrepublik 1969 aufgehoben. Die Sprecher aller im Bundestag vertretenen Parteien betonten aber bei der Verabschiedung des Gesetzes, dass damit homosexuelles Verhalten nicht gebilligt werde, sondern dass es nach wie vor moralisch verwerflich sei.

5. Die neuen Jugendschutzvorschriften: Unterschiedliche Schutzalter für Hetero- und Homosexualität in DDR und der Bundesrepublik

Jugendschutzvorschrift in der Bundesrepublik nach 1969

In der Bundesrepublik blieb der § 175 StGB als "Jugendschutzvorschrift" weiter in Kraft. Danach waren einvernehmliche sexuelle Handlungen von Männern über 21 Jahren mit Männern unter achtzehn weiter strafbar (Von 1969 bis 1973: von Männern über 18 Jahren mit Männern unter 21 Jahren).

Die Vorschrift war aber keine Jugendschutzvorschrift im heutigen Sinn. Sie sollte Jugendliche nicht generell vor verfrühten sexuellen Erfahrungen schützen, sondern "vor Schädigung ihrer Entwicklung durch sexuelle Verführung", so das BVerfG in einer Entscheidung von 1973 (BVerfGE 36, 41). Damit war die sogenannte Verführungstheorie gemeint, die behauptete, dass Jugendliche durch homosexuelle Erlebnisse während der Pubertät selbst homosexuell werden könnten. Diese "Verführungstheorie" wird heute von niemand mehr vertreten.

Das Schutzalter für einvernehmliche sexuelle Handlungen von Männern mit Mädchen lag dagegen in Deutschland schon immer bei 14 Jahren, ausgenommen die Verführung von - unbescholtenen - Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren zum Beischlaf, die nach § 182 StGB auf Antrag strafbar war. Die Verfolgung der Tat war aber ausgeschlossen, wenn der Täter das Mädchen heiratete. Es ging deshalb bei dieser Vorschrift ebenfalls nicht um Jugendschutz im heutigen Sinn, sondern um den Schutz der Jungfernschaft der Mädchen.

Unterschiedliche Schutzaltergrenzen in der DDR auch für weibliche Homosexualität (§ 151 StGB DDR)

In der DDR wurde der § 175 StGB durch die §§ 149 bis 151 StGB DDR ersetzt. Sie galten unterschiedslos für sexuelle Handlungen von Männern und Frauen mit Mädchen oder Jungen. Das Schutzalter für einvernehmliche sexuelle Handlungen von Erwachsenen mit Jugendlichen des gleichen Geschlechts lag wie in der BRD bei 18 Jahren (§ 151 StGB DDR). Das Schutzalter für einvernehmliche sexuelle Handlungen von Erwachsenen mit Jugendlichen des anderen Geschlechts lag dagegen - wie in der Bundesrepublik - bei 14 Jahren, ausgenommen der Beischlaf oder beischlafsähnliche Handlungen mit Jugendlichen des anderen Geschlechts zwischen 14 und 16 Jahren, wenn dabei "die moralische Unreife" der Jugendlichen ausgenutzt wurde (§ 149 StGB DDR). Die Vorschrift ähnelte also dem § 182 StGB, der früher in der Bundesrepublik gegolten hat.

Diese unterschiedlichen Jugendschutzvorschriften sind in der DDR 1987 durch das Oberste Gericht der DDR und 1989 durch den DDR-Gesetzgeber aufgehoben worden. Bei der Wiedervereinigung haben es die DDR-Bürgerrechtlicher durchgesetzt, dass die neuen Bundesländer nicht den in der BRD fortgeltenden § 175 StGB übernehmen mussten, sondern ihre liberaleren Vorschriften beibehalten durften. Dadurch galten im wiedervereinigten Deutschland in diesem Punkt unterschiedliche Strafvorschriften.

Das hat dazu geführt, dass 1994 der § 175 StGB in den alten Bundesländern aufgehoben und auf Drängen des LSVD ganz gestrichen wurde. Bis dahin hatte die CDU/CSU die Aufhebung des § 175 StGB immer abgelehnt und hätte das ohne die Wiedervereinigung vermutlich weiter getan.

Seitdem gilt in ganz Deutschland eine einheitliche Jugendschutzvorschrift, der neue § 182 StGB. Danach werden sexuelle Handlungen von Erwachsenen mit Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren bestraft, wenn die Erwachsenen die fehlende Fähigkeit der Jugendlichen zur sexuellen Selbstbestimmung ausgenutzt haben. Diese fehlt nach der Rechtsprechung nur bei Jugendlichen mit Entwicklungsstörungen.

6. Lesben und Schwule in den 1970er Jahren

In den siebziger Jahren war das Leben der Lesben und Schwulen in der BRD und in der DDR wegen des Makels der Unsittlichkeit und der ablehnenden Haltung der Bevölkerung noch immer sehr schwierig. Man brauchte zwar in der BRD nicht mehr zu befürchten, dass die Polizei vor der Tür stehen könnte, wenn es unerwartet klingelte. Auch war es jetzt sehr viel einfacher, andere Lesben und Schwule zu treffen oder lesbische und schwule Zeitungen zu beziehen, aber ein offenes Zusammenleben als Paar war in der Regel nicht möglich. Ein Coming-out war noch immer existenzgefährdend.

In den neu entstehenden Schwulengruppen in der BRD engagierten sich deshalb fast nur Studierende. Die Aktionen dieser Gruppen wurden von den Behörden stark behindert. Dazu beriefen sich die Behörden auf den fortbestehenden § 175 StGB. Unter Berufung auf diese Sondervorschrift wurden z.B. Infostände von Schwulen mit der Begründung verboten, dass das Infomaterial die Jugend gefährden könne.

7. Die 1980er Jahre: Das Aufkommen von AIDS

In der DDR baute Eduard Stapel eine homosexuelle Bürgerrechtsbewegung auf. 1982 war er Mitbegründer des Arbeitskreises Homosexualität der Evangelischen Studentengemeinde Leipzig. 1983 gründete er den Arbeitskreis Homosexualität Magdeburg. Von Magdeburg aus gelang ihm der Aufbau weiterer Gruppen. Am Ende der DDR gab es in 21 Städten kirchliche Arbeitskreise. Es war eine republikweite Bewegung für Emanzipation und Bürgerrechte entstanden. Die Stasi sah in seiner Arbeit eine “feindliche Zielstellung”. Etwa 50 hauptamtliche und 200 inoffizielle Stasi-Spitzel waren auf die Arbeitskreise Homosexualität angesetzt.

Einen ganz wesentlichen Fortschritt brachte dann die AIDS-Debatte in der BRD in den achtziger Jahren. Die Schwulen erkannten früh die mit AIDS verbundenen Gefahren und reagierten darauf in großer Solidarität. Sie schufen binnen kurzem ein breites Netz von Selbsthilfegruppen. Das führte bei vielen der Aktivisten zum öffentlichen Coming-out. Dadurch begannen die Behörden sich daran zu gewöhnen, mit Männern zu verhandeln, die offen als Schwule auftraten.

Die allgemeine Furcht vor AIDS wurde damals von einem Teil der Ärzte-Funktionäre und von Scharfmachern aus Bayern so instrumentalisiert, dass die Debatte zeitweilig hysterische Züge annahm. Sie bewirkte aber auch, dass nun zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit und abends zur Hauptsendezeit des Fernsehens darüber diskutiert wurde, wie Schwule leben und wie sie sexuell mit einander umgehen. Der Ausgang dieser AIDS-Debatte ist der erste große Erfolg der Schwulen im vergangenen Jahrhundert. Durch ihren engagierten, intelligenten und solidarischen Einsatz ist es gelungen, in der Bundesrepublik eine tolerante, menschliche und vernünftige AIDS-Politik zu etablieren.

Als Folge der AIDS-Debatte fiel in den achtziger Jahren das Stigma der Unsittlichkeit. Der Bundesgerichtshof urteilte damals, es könne heute nicht mehr festgestellt werden, dass das Zusammenleben unverheirateter Personen gleichen oder verschiedenen Geschlechts als sittlich anstößig empfunden werde. Das Zusammenleben stehe deshalb als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit unter dem Schutz des Grundgesetzes.

8. Die 1990er Jahre: Zunehmende Anerkennung von Lesben und Schwulen

Aufgrund dieses Einstellungswandels konnten Lesben und Schwule nun offen als Paar zusammenleben. Das führte natürlich zu der Frage, warum Lesben und Schwulen eine Heirat weiterhin verwehrt wird. Die Debatte wurde dadurch beflügelt, dass Dänemark 1989 als erstes Land die "Registrierte Partnerschaft" für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt hatte.

Der „Lesben- und Schwulenverband in Deutschland“ (LSVD), der 1990 als "Schwulenverband in Deutschland" (SVD) in der DDR gegründet worden war, machte sich die Forderung nach Öffnung der Ehe für Lesben und Schwule zu eigen und trug die Diskussion 1992 zusammen mit den "Schwulen Juristen" mit der "Aktion Standesamt" in die Öffentlichkeit. Damals versuchten rund 250 Lesben- und Schwulenpaare bei den Standesämtern das Aufgebot zu bestellen. Das wurde natürlich abgelehnt, zuletzt 1993 auch vom Bundesverfassungsgericht. Aber das Medienecho war ungeheuer. Noch nie hatte eine Aktion von Lesben und Schwulen so viel Aufsehen erregt. Die heiratswilligen Lesben- und Schwulenpaare waren in allen Medien präsent. Für manche von ihnen war die "Aktion Standesamt" zugleich das öffentliche Coming-out.

9. Die Diskussion über die Öffnung der Ehe für Lesben und Schwule

Die Forderung nach Öffnung der Ehe für Lesben und Schwule führte in der Community zu heftigen Diskussionen. Die Gegner*innen der "Homo-Ehe" argumentierten, dass die Ehe ein überholtes bürgerliches Relikt und dass es deshalb kontraproduktiv sei, ihre Ausdehnung auf Lesben und Schwule statt ihre Abschaffung zu fordern. Außerdem machte der Lesbenring geltend, dass die Ehe das Instrument des Patriarchats zur Unterdrückung der Frau sei; es bestehe die Gefahr, dass es bei den Lebensgemeinschaften der Lesben und Schwulen zu ähnlichen Strukturen und Abhängigkeitsverhältnissen komme.

Der LSVD und die Befürworter der "Homo-Ehe" bestritten die Reformbedürftigkeit der Ehe nicht, sondern machten geltend, dass sich die Reform des Eherechts noch lange hinziehen werde und dass man mit der Durchsetzung der Gleichberechtigung nicht so lange warten wolle. Lesben und Schwule sollten sich genauso wie Heterosexuelle frei entscheiden können, ob sie mit hoher Verbindlichkeit in der Ehe oder weniger verbindlich in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zusammenleben wollen. Außerdem gebe es bei den lesbischen und schwulen Partnerschaften viele Probleme, die unbedingt gesetzlich geregelt werden müssten, wie z.B. die Aufenthaltserlaubnis für die ausländischen Partnerinnen und Partner von deutschen Lesben und Schwulen. Das werde man durch die Forderung nach einer Änderung des Ausländergesetzes nie erreichen. Wenn aber die binationale Paare heiraten könnten, würden sie die Aufenthaltserlaubnis dazu bekommen. So ist es dann ja auch tatsächlich gekommen.

In der allgemeinen Öffentlichkeit kreiste die Diskussion um die "Homo-Ehe" fast ausschließlich um die juristische Frage, ob und inwieweit Art 6 Abs. 1 GG die Schaffung eines neuen Rechtsinstituts für Lesben und Schwule zulässt. Die Gegner der „Homo-Ehe“ beriefen sich auf das sogenannte "Abstandsgebot", das von den Juristen aus Art. 6 Abs. 1 GG abgeleitet wird. Die Vorschrift lautet: "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung." Daraus hatte das Bundesverfassungsgericht gefolgert, dass die Ehe gefördert werden müsse und die Ehefreudigkeit der Bevölkerung nicht beeinträchtigt werden dürfe. Deshalb dürften nichteheliche Lebensgemeinschaften verschiedengeschlechtlicher Partner nicht mit den gleichen Rechten ausgestattet werden wie Ehen, weil sonst die Leute nicht mehr heiraten würden. Zwischen den eheähnlichen Lebensgemeinschaften und den Ehen müsse rechtlich ein "Abstand" bestehen. Diesen Grundsatz hatten die Konservativen einfach auf gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften übertrgen. Der LSVD hat dagegen eingewandt, dass dieser Grundsatz für Lesben und Schwule nicht gelte, weil ihre Partnerschaften nicht mit der Ehe konkurrieren.

Die Gegner der "Homo-Ehe" verwiesen außerdem auf den demographischen Wandel und leiteten daraus ab, dass Deutschland ein aussterbendes Volk sei und dass wir es uns deshalb nicht leisten könnten, Lebensgemeinschaften zu fördern, von denen kein Nachwuchs zu erwarten sei. Das ist selbstverständlich Unsinn. Im Jahre 2014 lebten in Deutschland rund 41.000 Lebenspartnerschaften und rund 17,5 Millionen Ehepaare. Die Kosten, die die 41.000 Lebenspartnerschaften dem Staat verursachen, sind so gering, dass damit die 17,5 Millionen Ehepaare nicht messbar gefördert werden können.

Zum anderen behaupten die Gegner der "Homo-Ehe", die Rechtsinstitute Ehe und Familie würden durch eine Gleichstellung von Lebenspartner*innen mit Ehepaaren nivelliert und ausgehöhlt. Das ist nicht nachvollziehbar. Wenn Lesben und Schwule mit Nachdruck darauf drängen, dass ihre Lebenspartnerschaften dieselbe Verbindlichkeit wie eine Ehe haben sollen, bringen sie damit doch nur zum Ausdruck, wie sehr sie dieses Rechtsinstitut schätzen.

Es gibt auch keinerlei soziologische Erkenntnisse dafür, dass die Hochschätzung der Ehe in Ländern abgenommen hat, in denen die Ehe für Lesben und Schwule geöffnet worden ist. Oder anders gewendet: Warum sollte es ein verschiedengeschlechtliches Paar ablehnen zu heiraten oder sich scheiden lassen, weil nun auch Lesben und Schwule "heiraten" dürfen.

10. Kampf um das Lebenspartnerschaftsgesetz (2001): Erstmals wurden gleichgeschlechtliche Paare rechtlich anerkannt

1998 übernahmen die SPD und Bündnis 90 / Die Grünen die Regierung. Sie hatten den Lesben und Schwulen im Wahlkampf versprochen, nach einem Wahlsieg die Ehe für Lesben und Schwule zu öffnen. Dazu war aber die SPD nach der Regierungsübernahme nicht mehr bereit. Erst nach sehr schwierigen Diskussionen - vor allem mit der SPD-Justizministerin - einigten sich die Koalitionsfraktionen auf den Entwurf des Lebenspartnerschaftsgesetzes.

Die rechtlichen Rahmenbedingen für dieses Gesetz waren nicht günstig. Die Öffnung der Ehe hätte nach damaliger Rechtsauffassung eine Änderung des Grundgesetzes erfordert. Das ist nur mit Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates möglich. Daran war nicht zu denken, weil die CDU/CSU und die FDP gegen die Öffnung der Ehe waren.

Auch eine Regelung nach skandinavischem Vorbild war nicht möglich. Dort hatte man in den Gesetzen über die "Registrierte Partnerschaft" nur die Eingehung der Partnerschaft geregelt. Im Übrigen hatte man in einer Generalklausel festgelegt, dass auf die "Registrierte Partnerschaft" alle für die Ehe geltend Bestimmungen - mit Ausnahme der Adoptionsvorschriften - entsprechend anwendbar seien. Einem solchem Gesetz hätte der Bundesrat zustimmen müssen. Dort hatten aber die Bundesländer mit CDU/CSU und FDP Koalitionen die Mehrheit. Diese hätten eine generelle Verweisung auf die Ehevorschriften abgelehnt.

Es blieb deshalb nichts Anderes übrig, als in dem Lebenspartnerschaftsgesetz alle für Ehegatten geltenden Vorschriften einzeln aufzuführen, die auch für Lebenspartner gelten sollten.

Wir plädierten natürlich für eine weitgehende Angleichung des Lebenspartnerschaftsgesetzes an die Ehe. Dazu war aber die damalige SPD-Justizministerin Däubler-Gmelin nicht bereit. Sie hatte große Angst, dass das Bundesverfassungsgericht das Lebenspartnerschaftsgesetz wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für verfassungswidrig erklären würde. Diese Angst gründete auf dem juristischen Schrifttum.

Volker Beck und ich hatten Anfang der neunziger Jahre in einer juristischen Fachzeitschrift einen Aufsatz über die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare veröffentlicht. Wir hatten gehofft, damit eine Debatte der Jurist*innen über dieses Thema lostreten zu können, auf die wir uns hätten berufen können. Aber tatsächlich geschah nichts. Das Thema war den Jurist*innen zu abseitig. Erst als die Jurist*innen mitbekamen, dass die rot-grüne Koalition ein solches Gesetz plante, meldeten sich immer mehr Jurist*innenen zu Wort und vertraten die Meinung, dass ein solches Gesetz verfassungswidrig sei. Zuletzt war fast die ganze Juristenzunft gegen uns.

Deshalb wollte Ministerin Däubler-Gmelin nur ein Mini-Partnerschaftsgesetz vorlegen. Die volle rechtliche Gleichstellung sollten wir beim Bundesverfassungsgericht einklagen. Darüber debattierte sie mit uns bei mehreren Treffen, zu dem sie die Gruppen der Lesben und Schwulen eingeladen hatte. Diese trafen sich auf unsere Initiative hin vor den Treffen und verständigten sich dort auf eine gemeinsame Argumentationslinie. Demgemäß lehnten alle Gruppen den Mini-Entwurf geschlossen ab. Die Angst von Ministerin Däubler-Gmelin vor dem Bundesverfassungsgericht war so groß, dass sie auch die Vorlage des Mini-Entwurfs entgegen ihren Ankündigungen immer wieder hinausschob. Als mir schließlich die Geduld riss und ich das dauernde Hinausschieben im Namen des LSVD in einer Presseerklärung rügte, hat sie mir das so übelgenommen, dass sie mich nicht mehr begrüßte und mir keine Hand mehr gab, wenn wir uns begegneten.

Die Hauptlast der Auseinandersetzung hat aber der damalige Bundestagsabgeordnete Volker Beck getragen. Er hat dann schließlich durchgesetzt, dass dem Bundesjustizministerium die Fertigung des Entwurfs entzogen und einer Arbeitsgruppe von Abgeordneten beider Fraktionen übertragen wurde. Aber auch in der Arbeitsgruppe gab es weiter Diskussionen über einzelne Punkte. Zuletzt weigerte sich der damalige SPD-Innenminister Schily, einer Gleichstellung der Lebenspartner mit Ehegatten beim Familiennachzug zuzustimmen. Der Konflikt wurde dann so gelöst, dass das Innenministerium zu der letzten Sitzung der Arbeitsgruppe nicht mehr erschien und diese daraufhin die Gleichstellung in den Gesetzentwurf hineinschrieb.

Dafür hat sich Schily mit einem offenen Brief gerächt, in dem er behauptete, dass der Entwurf des Lebenspartnerschaftsgesetzes verfassungswidrig sei. Das war natürlich eine Steilvorlage für die CDU/CSU. Sie berief sich nun auch darauf, dass selbst der Verfassungsminister das Lebenspartnerschaftsgesetz für verfassungswidrig halte.

Das Lebenspartnerschaftsgesetz wurde schließlich am 10.11.2000 vom Bundestag verabschiedet und trat am 01.08.2001 in Kraft. 

Allerdings war das Lebenspartnerschaftsgesetz nur ein Torso. Da die CDU/CSU und die FDP während des Gesetzgebungsverfahrens ankündigten, dass sie das Gesetz mit ihrer Mehrheit im Bundesrat ablehnen würden, wurde der Gesetzentwurf in einen zustimmungsfreien und einen zustimmungsbedürftigen Teil aufgeteilt. Der zustimmungsfreie Teil trat als Lebenspartnerschaftsgesetz in Kraft, der zustimmungsbedürftige scheiterte im Bundesrat. Das hatte zur Folge, dass die Lebenspartner zwar von Anfang an dieselben Verpflichtungen wie Ehegatten hatten, aber zunächst kaum Rechte.

11. Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2002:  Lebenspartnerschaftsgesetz ist nicht verfassungswidrig und mit Artikel 6 GG vereinbar

Obwohl es der Regierungskoalition nur gelungen war, ein Torso zu verabschieden, riefen die Bundesländer Bayern, Sachsen und Thüringen das Bundesverfassungsgericht an und machten geltend, dass das Lebenspartnerschaftsgesetz verfassungswidrig sei. Außerdem hatten die Länder Bayern und Sachsen das Bundesverfassungsgericht aufgefordert, das Inkrafttreten des Gesetzes vorerst durch eine einstweilige Anordnung zu stoppen.

Wir hatten natürlich große Angst, dass das Bundesverfassungsgericht das Lebenspartnerschaftsgesetz für verfassungswidrig erklären und das Inkrafttreten des Gesetzes bis dahin stoppen würde. Denn für den Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung sprach, dass es in der Tat sehr nachteilig gewesen wäre, wenn zunächst viele Paare eine Lebenspartnerschaft eingegangen wären und das Bundesverfassungsgericht dann das Lebenspartnerschaftsgesetz für verfassungswidrig erklärt hätte. Deshalb beschlossen die Schwulen Juristen, dass wir dem Bundesverfassungsgericht unter dem Namen des LSVD eine Stellungnahme zu der einstweiligen Anordnung übersenden sollten, obwohl der LSVD nicht an dem Verfahren beteiligt war.

Kurz vor dem Abschluss der Arbeiten an unserer Stellungnahme habe ich bei der Geschäftsstelle des Bundesverfassungsgerichts angerufen und gefragt, wohin ich die Stellungnahme schicken könne. Der Beamte sagte mir, ich brauche nichts mehr zu schicken, die Sache sei schon entschieden. Ich war am Boden zerstört und habe in meiner Verzweiflung unseren Entwurf unkorrigiert zusammengepackt, unterschrieben und dem Bundesverfassungsgericht per Fax übermittelt. Danach geschah zu meiner Überraschung erst mal nichts. Einige Monate später wies das Bundesverfassungsgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Urteil vom 18.07.2001 als unbegründet zurück.

In der mündlichen Verhandlung über den Normenkontrollantrag durfte ich dann für den LSVD plädieren. Ich habe am Ende meines Vortrages mein Engagement in den Schwulengruppen angesprochen und geschildert, dass die jungen Leute in den Gruppen damals der Meinung gewesen seien, dass zwar der Kapitalismus nicht direkt und allein für die Homosexuellenunterdrückung verantwortlich sei; es werde aber ohne Revolution gegen das kapitalistische System keine Befreiung der Homosexuellen geben. Ich hätte ihnen nahegebracht, dass nicht eine Revolution, sondern die Gewinnung von parlamentarischen Mehrheiten der richtige Weg sei. Es sei uns auch gelungen, diese parlamentarischen Mehrheiten zu mobilisieren. Wenn aber das Bundesverfassungsgericht jetzt entscheiden sollte, dass die Lesben und Schwulen keine vollwertigen rechtlich abgesicherten Partnerschaften eingehen dürfen und damit auf Dauer nur Bürgern zweiter Klasse sind, müsste ich meinen jungen Mitstreitern sagen, dass sie Recht gehabt hätten.

Zu unserer großen Freude hat das Bundesverfassungsgericht den Normenkontrollantrag mit Urteil vom 17.07.2002 (BVerfGE 105, 313) als unbegründet zurückgewiesen und sich in seinem Urteil nicht der fast einhelligen Meinung der Juristen angeschlossen, sondern die Position des LSVD "übernommen". Es hat entschieden, dass der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG den Gesetzgeber nicht hindere, für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich oder nahe kommen. Dem Institut der Ehe drohten keine Einbußen durch ein Institut, das sich an Personen wendet, die miteinander keine Ehe eingehen können.

12. Von 2002 bis 2013: Klagen von Lebenspartner*innen - mehrere Verfassungsgerichtsurteile fordern die Gleichstellung

Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil von 2002 nur entschieden, dass der Gesetzgeber Lebenspartner mit Ehegatten gleichstellen darf, aber nicht, ob er das auch muss. Darum ging dann der Streit bis 2014.

Der LSVD ist zweigleisig verfahren. Er hat einerseits versucht, die Gleichstellung durch politische Lobbyarbeit voran zu bringen. Damit hatte er immer mal wieder Erfolg. Der größte Erfolg war das Überarbeitungsgesetz von 2005, durch das die Lebenspartner bei der gesetzlichen Hinterbliebenenrente mit Ehegatten gleichgestellt worden sind und die Stiefkindadoption von leiblichen Kindern von Lebenspartnern zugelassen worden ist. Dies hat Volker Beck bei einem Spitzengespräch der rot-grünen Koalition durchgesetzt.

Zum anderen hat der LSVD versucht, möglichst viele Lesben und Schwule zu ermuntern, gegen ihre Benachteiligungen zu klagen. Das Problem war, dass die meisten Bürger vor Klagen zurückschrecken, weil sie Angst vor den Kosten haben, die auf sie zukommen können.

Wir konnten die Prozesse nicht für die Benachteiligten führen, weil der Gesetzgeber den Antidiskriminierungsverbänden im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz kein Verbandsklagerecht zugestanden hat. Es gibt im deutschen Prozessrecht auch nicht das Institut der Musterklage oder die Möglichkeit, Sammelklagen zu erheben. Der Gesetzgeber hat den Antidiskriminierungsverbänden nur erlaubt, Benachteiligte zu beraten und sie zu mündlichen Verhandlungen als Beistand zu begleiten. Das haben wir wie folgt ausgenutzt:

Ich habe auf der Webseite des LSVD zu allen Benachteiligungen der Lebenspartner Musteranträge bereitgestellt. Diese haben zahlreiche Lebenspartner abkopiert und bei den zuständigen Behörden eingereicht. Die Anträge wurden natürlich abgelehnt. Dann fragten die Antragsteller bei uns an, was sie denn nun machen sollten. Ich habe ihnen geantwortet, dass sie nun Einspruch oder Widerspruch einlegen und anschließend klagen müssten, wenn sie weitermachen wollten. Gleichzeitig habe ich ihnen angeboten, ihnen kostenlos alle Schriftsätze zu entwerfen und sie zu möglichen mündlichen Verhandlungen als Beistand zu begleiten. Da sich die Gegenseite selbst vertreten werde, riskierten sie in der ersten Instanz nur die Gerichtskosten. Diese habe ich ihnen ausgerechnet. Viele Lebenspartner waren bereit, dieses Risiko zu tragen. Auf diese Weise haben wir erreicht, dass mehrere hundert Lebenspartner gegen ihre Benachteiligung geklagt haben.

Ich habe diese vielen Prozesse allein gemanagt. Das habe ich nur dadurch leisten können, dass ich ausufernd mit Textbausteinen gearbeitet habe. Wir hofften natürlich, durch die Klagen-Offensive positive Urteile der Gerichte zu erlangen, um damit unsere Forderungen an die Politik zu untermauern.

Das ist nach einer langen Durststrecke schließlich auch gelungen. Der LSVD hatte bei den Beratungen des Lebenspartnerschaftsgesetzes immer darauf gedrängt, dass die Lebenspartner auch dieselben Verpflichtungen wie Ehegatten übernehmen sollten. So haben wir z.B. eine Verkürzung der Trennungszeit bei der Aufhebung von Lebenspartnerschaften abgelehnt, obwohl die derzeitige Trennungszeit von drei Jahren für Ehegatten und Lebenspartner viel zu lang ist. Der Hintergedanke war: Wer gleiche Pflichten hat, darf am Ende auch gleiche Rechte für sich verlangen, weil alles andere den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt.

Die deutschen Gerichte vertraten dagegen lange Zeit die Auffassung, dass Art. 6 Abs. 1 GG der Ehe eine Sonderstellung verleihe, die es dem Gesetzgeber erlaube, die Ehe entgegen dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG zu bevorzugen. Die Klagen wurden deshalb zunächst jahrelang abgelehnt.

Der Durchbruch kam erst 2008 durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg, dass der Ausschluss der Lebenspartner von der Hinterbliebenenversorgung gegen die europäische Gleichbehandlungsrichtlinie für den Bereich Beschäftigung und Beruf verstößt. Daraufhin hat das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung geändert, zunächst 2009 der Erste Senat und nach langem Zögern 2012 auch der Zweite Senat. Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht mit insgesamt sechs Entscheidungen die Gleichstellung der Lebenspartner durchgesetzt.

13. "Ehe für Alle" - Das Eheöffnungsgesetz

Lebenspartner*innen hatten aufgrund der Urteile des Bundesverfassungsgerichts seit 2013 dieselben Rechte und Pflichten wie Ehepaare. Lebenspartnerschaft und Ehe unterschieden sich praktisch nur noch im Namen.

Unterschiede gab es noch bei der Adoption. Ehegatten können ein Kind gemeinschaftlich adoptieren und sind dann rechtlich gemeinschaftliche Eltern des Kindes (§ 1754 Abs. 1 BGB). Lebenspartner können ein Kind nur nacheinander adoptieren, sind dann aber ebenfalls gemeinschaftliche Eltern des Kindes (§ 9 Abs. 7 LPartG i.V.m. § 1754 Abs. 1 BGB). Es ging deshalb bei der Streitfrage "gemeinschaftlichen Adoption von Kindern durch Lebenspartner" nicht mehr um die Grundsatzfrage, ob Kinder bei Lesben und Schwulen aufwachsen sollen, sondern nur noch um die Verfahrensfrage, ob die Adoption wie bei Ehegatten sofort in einem Akt erfolgen soll, also um eine Verfahrensvereinfachung.

Außerdem waren inzwischen alle Parteien außer der CDU/CSU dafür, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen. Sie hatten auch die von uns propagierte Rechtsmeinung übernommen, dass die Öffnung der Ehe ohne verfassungsändernde Mehrheit durch einfaches Gesetz erfolgen könne und entsprechende Gesetzesanträge in den Bundestag eingebracht.

In Art. 6 Abs. 1 GG wird nämlich nicht definiert, was eine Ehe ist. Deshalb brauchte für die Öffnung der Ehe am Wortlaut der Vorschrift nichts geändert zu werden. Es ging nur um die Auslegung der Vorschrift.

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts muss der Gesetzgeber zwar die überkommenen Grundprinzipien der Ehe wahren. Er darf aber die Ausgestaltung der Ehe den gewandelten Bedürfnissen anpassen. Das gilt auch für die Frage, ob der Geschlechtsverschiedenheit eine prägende Bedeutung zukommt. Das hatten wir verneint, weil Lebenspartner inzwischen dieselben Rechte und Pflichten wie Ehegatten haben und die Allgemeinheit deshalb nicht mehr unterscheidet, ob ein Paar verheiratet oder verpartnert ist. Dem hatte sich die Grünen, die Linke und die SPD angeschlossen.

Trotzdem kam es zunächst nicht zur Öffnung der Ehe, weil die CDU/CSU gegenüber ihrem Koalitionspartner SPD geltend machte, dass sie es als Bruch der Koalition werten werde, wenn die SPD mit der Opposition für eine Öffnung der Ehe stimmen sollte.

Der Wandel kam dann dadurch, der LSVD auf seinem 29. LSVD-Verbandstag im April seine Forderungen zur Bundestagswahl 2017 verabschiedete. U.a. wollten wir von den Parteien wissen: Werden Sie einen Koalitionsvertrag nur dann unterzeichnen, wenn darin die Öffnung der Ehe enthalten ist (Punkt 2.3.)?

Kurz darauf setzte Volker Beck bei den Grünen den Beschluss durch, dass die Öffnung der Ehe eine unverzichtbare Bedingung für zukünftige Koalitionen sei. Dem folgten kurz darauf die Linken, die FDP und schließlich auch die SPD. Das veranlasste die Bundeskanzlerin zu der Bemerkung in einem Interview, dass man die Abstimmung über diese Frage dem Gewissen der Abgeordneten überlassen solle. Daraufhin konterte die SPD, das ihre Abgeordneten nicht erst nach der Bundestagswahl, sondern schon jetzt ein Gewissen hätten, und setzte durch, dass der Bundestag die fast gleichlautenden Gesetzentwürfe der Linken, der Grünen und des Bundesrats in der letzten Sitzungswoche der vergangenen Legislaturperiode beriet und den Gesetzentwurf des Bundesrats verabschiedete.

Der Vorwurf, das sei überstürzt geschehen, ist formal unrichtig. Die Fraktion DIE LINKE hatte ihren Gesetzentwurf schon Ende 2013 in den Bundestag eingebracht. Der Rechtsausschuss hatte im September 2015 zu den Entwürfen der Linken und der Grünen eine große Anhörung durchgeführt. Aber tatsächlich ist sowohl bei der Anhörung als auch im Bundestag bei den Diskussionen über die Gesetzentwürfen nur darüber diskutiert worden, ob die Öffnung der Ehe durch einfaches Gesetz erfolgen kann. Die Einzelregelungen des Eheöffnungsgesetzes sind nur nebenbei angesprochen worden.

Trotzdem gab es bei der Umsetzung des Eheöffnungsgesetzes kaum Probleme, weil das Bundesinnenministerium den Standesämtern in umfangreichen Anwendungshinweisen vorgegeben hat, wie das Gesetz anzuwenden ist.

14. Die Rehabilitierung der wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Männer

Die Rehabilitierung der wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Männer ist ähnlich schwierig verlaufen.

Solange der § 175 StGB unverändert in Kraft war und angewandt wurde, war an eine Rehabilitierung der von den Nazis verurteilten homosexuellen Männer nicht zu denken. Die Verurteilungen vor 1945 sind deshalb erst 2002 nach langen Debatten generell aufgehoben worden. Anstelle einer individuellen Entschädigung, die weitgehend unmöglich gewesen wäre, hat der Bund die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld gegründet und mit Stiftungskapital ausgestattet. Sie soll u.a. die Verfolgung der Menschen mit nicht heterosexueller Orientierung erforschen und an sie erinnern.

Bis zur Rehabilitierung der nach 1945 verurteilten homosexuellen Männer hat es weitere 15 Jahre gedauert.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte zwar seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wiederholt entschieden, dass die Bestrafung einvernehmlicher homosexueller Handlungen von erwachsenen Männern gegen die Menschenrechte verstößt. Ab 2003 vertrat er dieselbe Auffassung für Strafvorschriften mit höherem Schutzalter für Jungen, weil jegliche objektive und vernünftige Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung eines höheren Einwilligungsalters für homosexuelle Handlungen mit Jungen fehle. Gleichwohl lehnten die CDU/CSU, die SPD und die FDP eine Rehabilitierung der nach 1945 verurteilten Männer ab. Immerhin hat der Deutsche Bundestag in einer am 07.12.2000 einstimmig verabschiedeten Resolution bekannt, dass durch die nach 1945 weiter bestehende Strafdrohung homosexuelle Bürger in ihrer Menschenwürde verletzt worden sind.

Gegen die Rehabilitierung wurden drei Argumente vorgebracht: Die Verurteilungen nach § 175 StGB seien vom Bundesverfassungsgericht gebilligt worden. Wenn sich die Auffassungen über die Strafbarkeit eines Verhaltens änderten, sei das kein Grund, frühere Verurteilungen aufzuheben. Auch dürfe der Gesetzgeber keine rechtskräftigen Urteile aufheben. Das verstoße gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung.

Inzwischen haben zunächst die SPD und die FDP und schließlich auch die CDU/CSU ihren Widerstand gegen die Rehabilitierung aufgegeben. Das "Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen (StrRehaHomG)" ist am 22.07.2017 in Kraft getreten.

15. Ausblick: LSBTI heute

Wenn man sich vergegenwärtigt, dass einige Schwule die Öffnung der Ehe erstmals 1989 gefordert haben, ist der Erfolg, den der LSVD in so kurzer Zeit errungen hat, beeindruckend.

In den 1980er Jahren ist es wegen des Verdachts, dass ein hoher General der Bundeswehr homosexuell sei, noch zu einem großen Skandal gekommen (Kießling-Affäre). Heute können sich lesbische Politikerinnen und schwule Politiker ohne weiteres outen, ohne dass sie befürchten müssen, dass das ihrer Kariere schadet. Der ehemalige Berliner Regierende Bürgermeister Wowereit hat durch sein mutiges Coming-out sicher sehr viel zu dieser Entwicklung beigetragen. Aber das wäre ohne die Vorarbeit des LSVD nicht möglich gewesen.

Der LSVD hat zwar viel erreicht, aber er ist nicht überflüssig Jede Gruppe, die keine Lobby hat, wird übergangen und untergebuttert. Wenn sich ein Politiker oder ein Kirchenmann homophob äußert, muss jemand da sein, der das sofort anprangert und so viel Empörung lostritt, dass der betreffende Politiker oder Kirchenmann zurückrudern und sich von seinen homophoben Äußerungen distanzieren muss.

Sorge macht dem LSVD vor allem ein Bündnis aus christlich-fundamentalistischen, evangelikalen und rechtspopulistischen Gruppen und Initiativen, das seit einiger Zeit versucht, ein gesellschaftliches Rollback in Gang zu bringen und durchzusetzen. Ihre Aktionen richten sich gegen die Bildungspläne einiger Bundesländer und die Sexualaufklärung an den Schulen. Die Kampagne agiert mit kaum kaschierten Hassparolen, Verzerrungen und Verdrehungen gegen eine Pädagogik der Vielfalt. Dabei nutzen die Propagandisten die Unkenntnis vieler Eltern über die Pädagogik der Vielfalt aus und machen den Eltern weiß, die Kinder würden schon im Kindergarten "sexualisiert". Das erweckt bei manchen Eltern Angst und veranlasst sie, die neue Bewegung zu unterstützen. Tatsächlich bilden die neuen Bildungspläne und Richtlinien für den Sexualkundeunterricht nur die bestehende gesellschaftliche Vielfalt ab und werben für Toleranz.

Außerdem wendet sich die Kampagne unter dem Schlagwort "Genderismus" gegen eine den Werten unserer Verfassung entsprechende Gleichstellungspolitik zwischen den Geschlechtern. Sie behauptet, der Gender-Mainstreaming ziele auf die Zerstörung der Familie ab, die die Keimzelle der Gesellschaft sei.

Besonders perfide ist die Behauptung dieser Gruppen, die Minderheiten hätten inzwischen ihren Einfluss in unserer Gesellschaft so ausgebaut, dass die Verfechter der guten alten Werte Verfolgung und Diskriminierung befürchten müssten. Die Minderheiten dürften nicht nur Toleranz fordern, sie müssten auch selbst Toleranz üben. Im Klartext bedeutet dies, die Homosexuellen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LSBTI) müssten es tolerieren, wenn die Mehrheit sie ablehnt und sie wieder an den Rand der Gesellschaft zurückdrängen will. Damit wird der in Art. 3 GG und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) festgeschrieben Minderheitenschutz in sein Gegenteil verkehrt und ausgehebelt.

Diese Gruppen sind ein Sammelbecken für alle diejenigen, die unterschiedliche Lebensentwürfe nicht ertragen. Sie nehmen Vielfalt nur als Angriff auf alte Werte, aber nie als Bereicherung wahr. Sie erheben verbissen und wütend das eigene Weltbild zum Maßstab und ziehen im Namen von Ehe und Familie, Religion und Abendland gegen all jene zu Felde ziehen, die den eigenen rassistischen und homophoben Vorstellungen widersprechen.

Diese neue Bewegung, die mit der AfD ihre rechtspopulistische bis rechtsextremistische parlamentarische Heimat gefunden hat, ist eine ernste Gefahr für unsere offene Gesellschaft. Und es ist wichtig, dass es Organisationen wie den LSVD gibt, die solchen Gruppen Paroli bieten.

In Deutschland haben wir viel an persönlicher und gesellschaftlicher Freiheit erkämpft. Immer mehr Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen leben selbstbewusst, offen und akzeptiert: in der Familie, in der Nachbarschaft, im Verein und allen denkbaren Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Die rechtliche Gleichstellung von Lesben und Schwulen konnten wir weit vorantreiben. Drei Jahrzehnte haben wir für die Öffnung der Ehe gekämpft und schließlich breite Mehrheiten in Gesellschaft und Parlament gewinnen können. Die Ehe für alle ist ein Meilenstein in der Geschichte der Bürgerrechte in Deutschland. Sie macht unsere Gesellschaft reicher und unser Land lebenswerter.

Aber Homophobie und Transfeindlichkeit, die feindselige Einstellung gegenüber LSBTI sind noch nicht überwunden, sondern in Teilen der Gesellschaft weiterhin verbreitet. Beleidigungen und Herabwürdigungen, Diskriminierungen und Benachteiligungen, Anfeindungen und Übergriffe bis hin zur offenen Gewalt gehören weiterhin zur Wirklichkeit in Deutschland. Wenn Menschen sich deshalb nicht unbefangen im öffentlichen Raum bewegen können, ist das ein massiver Angriff auf die Freiheit. Homophobe und transfeindliche Stimmen sind sogar in jüngster Zeit wieder deutlich lautstärker geworden. Menschenverachtende Ideologien der Ungleichheit befeuern Ressentiments. Religiös-fundamentalistische, rechtsextreme und rechtspopulistische Kräfte kämpfen voller Hass darum, LSBTI gleiche Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten zu beschneiden und sie wieder aus dem öffentlichen Leben zu drängen. So laufen sie Sturm gegen eine Pädagogik der Vielfalt oder diffamieren das Bemühen um mehr Geschlechtergerechtigkeit. All das zeigt uns: Um Werte wie Freiheit, Gleichheit und Respekt muss täglich neu gerungen werden.

basierend auf den Erinnerungen von Manfred Bruns (Februar 2018, ergänzt 2020)

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