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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Regenbogen-Kompetenz: Bedürfnisse und Lebenslagen von LSBTI in der kultursensiblen Pflege und Altenarbeit

Ergebnisse des Fachforums auf dem zweiten Regenbogen-Parlament "Akzeptanz für LSBTI* weiter gestalten"

Welche Rahmenbedingungen sind notwendig, um ein selbstbestimmtes Leben im Alter zu gewährleisten? Wie kann die Regenbogenkompetenz, d.h. der professionelle und diskriminierungsfreie Umgang mit Themen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt in Pflege und Alter erhöht werden?

Ältere Person im Rollstuhl wird von jemanden über eine Wiese geschoben. Symbolbild für LSBTI-sensible Pflege und Alten-Hilfe

Was bedeutet „Regenbogen-Kompetenz“ in der Senior*innenarbeit, in der Bildung, in Religionsgemeinschaften, in den Medien, in der Arbeitswelt und in der internationalen Menschenrechtspolitik? Das wurde beim 2. Regenbogenparlament "Akzeptanz von LSBTI* weiter gestalten" diskutiert. Hier dokumentieren wir die Ergebnisse des Fachforum  "Regenbogenkompetenz in Pflege und Alter" zum Umgang mit Themen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt.

Die Broschüre mit den Ergebnissen des 2. Regenbogenparlaments "Akzeptanz von LSBTI* weiter gestalten" steht zum Download bereit oder aber so lange der Vorrat reicht per Mail an presse@lsvd.de kostenfrei bestellt werden.

An anderer Stelle finden Sie auch ein Interview mit Dennis Nano, dem Autor von "Kultursensible Pflege für Lesben und Schwule im Krankenhaus".

Hauptaussagen des Fachforums: "Regenbogen-Kompetenz in Pflege und Alter"

  • Schwierige Situation in der Pflege allgemein (Zeitstress, Fachkräfte-Mangel, Bezahlung) mit Aufwertung des Pflege-Berufs entgegentreten
  • offene Altenhilfe sowie ambulante/ stationäre Angebote der Altenpflege sollten auf die besonderen Bedürfnisse und Lebenslagen von LSBTI* ausgerichtet sein
  • Angst vor Coming-out durch sichtbare Signale der Offenheit und Selbstverständlichkeit nehmen
  • LSBTI*-sensible Aus- und Fortbildung: Wissen um Geschichte, Lebenswege und Alltag von LSBTI sowie trans- und intergeschlechtliche Körper
  • LSBTI*-Freundlichkeit einer Pflege-Einrichtung kann mit Diversity-Kriterien-Katalog vom Qualitäts-Siegel des Berliner Lebensort Vielfalt geprüft werden
  • Studienlage verbessern: Was wünschen und brauchen LSBTI* im Alter? Wie leben LSBTI* im Alter derzeit?
  • staatliche Förderung von entsprechenden Zertifizierungen und von Modell-Projekten
  • Mainstreaming: LSBTI als Thema für Senior*innen-Verbände/ Politik und die Wohlfahrts-Pflege

Einleitung

Das Recht auf ein angstfreies und offenes Leben muss in allen Lebensphasen verwirklicht werden. Sowohl die Angebote der offenen Altenhilfe als auch die ambulante/ stationäre  Altenpflege sind oftmals nicht für die besonderen Bedürfnisse und Lebenslagen von LSBTI* ausgerichtet.

Aus Angst vor Vorbehalten und Diskriminierung durch die Mitarbeitenden oder Mitbewohner*innen werden wichtige Aspekte der eigenen Biografie verschwiegen oder verleugnet. Einschränkungen von Mobilität und Gesundheit führen zum Verlust von Autonomie und von sozialen Kontakten. Das hat auch für LSBTI* massive Auswirkungen.

„Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt“: Kriterien-Katalog zum Diversity-Check

Frank Kutscha arbeit bei der Schwulenberatung in Berlin. Er stellte zum Einstieg die Projekte des Netzwerks „Anders Altern“ der Schwulenberatung Berlin, insbesondere das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte „Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt“ vor. Einrichtungen erhalten diese Auszeichnung, wenn sie sich nachweislich bemühen, die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ihrer Bewohner*innen als wesentlichen Aspekt ihrer Persönlichkeit zu berücksichtigen – in der Pflege wie auch im alltäglichen Leben der Einrichtung.

Der sogenannte „Diversity-Check“ ist das Herzstück des Qualitätssiegels. Er ist ein 120 Punkte umfassender Kriterien-Katalog, mit dem die LSBTI*-Freundlichkeit einer Pflege-Einrichtung festgestellt werden kann. Er dient auch als Basis für die deutschlandweite kostenlose Beratungstätigkeit.

Die Kriterien des Diversity-Checks beziehen sich auf 5 zentrale Bereiche einer Pflege-Einrichtung:

  1. Unternehmenspolitik und Kommunikation
  2. Personalmanagement
  3. Transparenz und Sicherheit
  4. Pflege und Gesundheit 
  5. Wohn- und Lebenswelten der Bewohner*innen

Diese 5 Bereiche erfassen die Ebenen der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität.

Die erste Einrichtung, das Pilotprojekt des „Qualitätssiegels Lebensort Vielfalt“, wird voraussichtlich noch dieses Jahr ausgezeichnet. Eine zweite Einrichtung folgt Anfang nächsten Jahres. Interesse am Qualitätssiegel bekunden kommunale, konfessionelle und privatwirtschaftliche Träger.

Fehlende LSBTI* kultursensible Pflege in Aus- und Fortbildung

Das Qualitätssiegel wurde in Zusammenarbeit mit der LSBTI*-Community entwickelt. Es soll unter Berücksichtigung der Erfahrungen der Beratungs-Praxis weiterentwickelt werden. Kutscha betonte, dass von dem Siegel alle Bewohner*innen einer Einrichtung profitieren würden, nicht nur LSBTI*.

Fortbildungen der Mitarbeitenden sind ein wesentlicher Bestandteil des Kriterien-Katalogs. Unter Berücksichtigung von hohen Fortbildungs-Anforderungen und Fachkräfte-Mangel in den Pflege-Einrichtungen ist ein Fortbildungs-Katalog entstanden. Dieser ermöglicht es Einrichtungen, das Personal umfassend in verschiedenen, für pflegebedürftige LSBTI* relevanten Bereichen zu schulen. Zugleich wird die Vernetzung mit der regionalen LSBTI*-Community gefördert.

Neben einer LSBTI*-Basis-Schulung sind Fortbildungen im Bereich von Inter* und Trans* in der Pflege sowie Schulungen im Bereich HIV/ AIDS verpflichtender Bestandteil des Qualitätssiegels. Derzeit spiele die LSBTI* kultursensible Pflege in den Ausbildungen der Pflegekräfte, wenn überhaupt, nur eine sehr geringe Rolle. Deutschland unterscheidet sich in diesem Bereich nicht von anderen Ländern. Auch die hohe Anzahl von Quereinsteiger*innen ohne Grund-Ausbildung profitieren von den Fortbildungen, die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität im Kontext der Pflege thematisieren.

Insgesamt ist festzustellen, dass der Forschungsbedarf in den unterschiedlichen Bereichen der LSBTI*-kultursensiblen Pflege hoch ist. Eine weitere Professionalisierung der Pflege- und Gesundheitsberufe im Sinne einer fortschreitenden Akademisierung wäre für die Generierung von Forschungs-Ergebnissen hilfreich.

Besondere Bedarfe von älteren trans* und inter* Menschen

Lucie Veith ist beim Verein Intersexuelle Menschen. Veith wies darauf hin, dass besonders beim Thema Demenz oder beim Verlust der Sprachfähigkeit die Folgen für inter* und trans* Personen gravierend seien. Fachkräfte in der Altenpflege seien beispielweise auf die Versorgung einer Neovagina gar nicht vorbereitet. Wenn Klient*innen Informationen über zurückliegende Operationen und über das verwendete Material nicht weitergeben können, komme es zur „Verrottung“ von innen. Auch beim Thema „Hormongabe“ fehle es an Fachwissen.

Das habe gravierende Folgen für Pflegende und Klient*innen. Besondere Pflege-Bedürfnisse von inter* Menschen sind weitgehend unbekannt. Intergeschlechtliche Menschen fürchten Ausgrenzungen und Unterbringungen in Mehrbett-Zimmern. Auch sind die Bedürfnisse von intergeschlechtlichen Menschen im Alter in keiner Studie erfasst.   

Altenhilfe/ -pflege oftmals ohne zeitgeschichtliches Wissen um Lebensumstände der Klient*innen

Vom Dachverband Lesben und Alter merkte MitarbeiterinVera Ruhrus merkte an, dass der Autonomie-Bedarf bei älteren, alleinlebenden Lesben sehr hoch sei. Lesbische Frauen* seien oft auch gut vernetzt. Hinzu komme, dass nicht alle Menschen in entsprechenden Einrichtungen der Altenhilfe/ -pflege leben wollen. Es gebe den starken Wunsch, dort alt zu werden, wo man wohnt.

Gleichzeitig unterstrich Vera Ruhrus, dass es in den Einrichtungen der Altenhilfe oft auch an zeitgeschichtlichem Wissen um die Lebens-Umstände der Klient*innen fehle (zum Beispiel Wissen um den § 175 StGB). Klient*innen haben oft Jahrzehnte im Verborgenen gelebt, ohne dass ein Coming-out möglich oder denkbar gewesen wäre. Auch wenn Lesben durch den § 175 StGB nur indirekt betroffen waren, wurden sie nicht selten Opfer von Sorgerechts-Entzug und anderen Repressionen.

Lucie Veith ergänzte, dass es besonders auch beim Thema Trans* und Inter* konkrete Studien brauche. Wir müssen wissen, was LSBTI* im Alter wichtig ist, so Veith. Gleichzeitig unterstrich Ruhrus, dass es eine deutliche Diskrepanz gäbe zwischen dem, was sich LSBTI* wünschen und dem, was in der Pflege überhaupt noch möglich sei. 

Frank Hoyer vom ASB NRW fügte hinzu, dass man auch darüber sprechen müsse, wie man mit den vorhandenen Ressourcen in der Pflege derzeit und zukünftig, gerade auch unter der Berücksichtigung des demografischen Wandels, eine umfassende Betreuung und Hilfe gewährleisten könne. Moderatorin Sina Vogt berichtete, dass die mobilen Pflegekräfte oft unter einem immensen Zeitstress stehen. In nahezu 20 Minuten müsse eine komplette Pflege erfolgen. Daher sei es nicht verwunderlich, dass Fachkräfte abblocken beim Thema „kultursensible Pflege“: „Das sollen wir jetzt auch noch machen?“

Eine Lösung könne eine Kooperation von professionellen Pflegedienstleistern und nachbarschaftlichen Netzwerken sein, merkte Vera Ruhrus an. Erschwerend komme allerdings hinzu, dass Pflegekräfte den Nutzen einer LSBTI*-kultursensiblen Pflege oft nicht wahrnehmen.

Was ist nötig, um Regenbogenkompetenz in der Altenhilfe und -pflege zu erhöhen?

  • LSBTI*-kultursensible Pflege
  • Diversity bzw. Regenbogen-Siegel mit verbindlicher Umsetzung
  • Regenbogenkompetenz muss als Mainstream-Thema in allen Einrichtungen umgesetzt werden
  • Schulungen und Workshops in allen Bereichen: „Pflege & Beratung“, „Geschlechtergerechter Umgang“, „Geschlechtergerechte Sprache“, LSBTI*-inklusive Biographiearbeit
  • Aktionspläne zum Thema Regenbogenkompetenz in Pflege und Alter
  • Das Thema Non-Binärität sollte verpflichtend in die Curricula der Aus- und Weiterbildung aufgenommen werden, zum Beispiel: „Wie spreche ich nicht-binäre Menschen an?“

Wie können Träger einen diskriminierungsfreien Alltag von LSBTI* Senior*innen ermöglichen?

  • Einrichtungen müssen das Thema Diversität mit in ihre Prozesse und Organisation aufnehmen
  • Maßnahmen müssen operationalisierbar sein („handpraktische Umsetzung“)
  • Träger sollten sich stärker über „best-practice“-Beispiele untereinander austauschen

Welche Forderungen leiten sich daraus für die Politik ab?

  • Studienlage verbessern: Was wünschen und brauchen LSBTI* im Alter? Wie leben LSBTI* im Alter derzeit?
  • Wissenschaft zum Thema „Pflege“ fördern: Professionalisierung, Forschungsgelder erhöhen, Professuren schaffen
  • Rechtsanspruch auf eine gerechte Pflege absichern: Es geht hier nicht um eine bloße Dienstleistung, sondern um ein Grundrecht. Leistungen stehen allen Menschen zu, LSBTI* sind keine Ausnahme. Wenn Leistungen nicht erfolgen, muss es Konsequenzen haben. Der Staat muss hier seine Kontrollpflicht durch seine Aufsichts-Behörden oder den Medizinischen Dienst der Krankenkassen wahrnehmen.
  • staatliche Förderung von entsprechenden Zertifizierungen und von Modell-Projekten
  • Quartiers-Förderung: Menschen müssen so lang wie möglich dort leben können, wo sie wohnen. Strukturen im ländlichen Raum aufwerten
  • Leistungen im Gesundheits-/und Pflege-System müssen unabhängig von Einkommen / Rente finanziert werden
  • Aufwertung des Pflegeberufs: finanziell, Akademisierung (Bsp. Niederlande), niedergelassene Krankenschwestern / Gemeindeschwestern (Bsp. Rheinland-Pfalz)
  • Die Haltung von Pflegenden muss verbessert werden.

An welchen Strategien sollten Verbände hier arbeiten?

  • interkulturelle Öffnung / generationale Öffnung: Verbände hängen Menschen ab, weil sie sie nicht mitdenken
  • Träger sollten stärker Synergie-Effekte zwischen nachbarschaftlicher Unterstützung und Pflege nutzen
  • innerverbandliche Studien zur Thematik „Bedarfe in Pflege und Alter“ müssen angestoßen werden
  • vielfältige Gesellschaft muss überall durchdekliniert werden (Land / Kommune)
  • Dialog mit den Wohlfahrts-Verbänden: Fachtagungen, Entwicklung von Empfehlungen, bundesweites Bildungsprojekt zum Thema „Pflege“, bundesweite Fachtage
  • (Förderung der Gesundheit)
  • LSVD soll Senior*innen-Verbände wie BAGSO (Bundesarbeitsgemeinschaft Seniorenorganisationen) ansprechen, um einen großen gesellschaftsfähigen Polylog anzustoßen: Was macht ihr für LSBTI*? Wie können wir gemeinsam arbeiten?
  • Stärkung der Zugehörigen: Das X Sozialgesetzbuch (SGB I) definiert Angehörige weiter, pflegende Angehörige werden damit entlastet. Das SGB muss stärker auch auf Zugehörige ausweitet werden
  • Dialoge und Fachgespräche zwischen LSBTI*-Verbänden und Krankenkassen / Kammern / Medizinischen Diensten der Krankenkassen muss angestoßen und unterstützt werden
  • Krankenkassen, Kammern und Verbände müssen intersektional denken und arbeiten. Beispiel: LSBTI* mit Behinderung

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