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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Keine sicheren Herkunftsstaaten: Algerien, Marokko und Tunesien

Das bewirkt eine Einstufung von Verfolgerstaaten zu "sicheren Herkunftsstaaten"

Was sind sichere Herkunftsländer? Warum sollten die Verfolger-Staaten Tunesien, Marokko und Algerien nicht zu sicheren Herkunftsstaaten eingestuft werden? Wie ist dort die Menschenrechtslage für queere Menschen?

Ausschnitt aus der ILGA-Weltkarte zeigt, dass Algerien, Marokko und Tunesien Homosexualität verbieten und mit Gefängnis bestrafen

Seit 2016 gibt es regelmäßig Diskussionen darüber, Algerien, Marokko und Tunesien zu sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“ zu erklären. In allen 3 Maghreb-Staaten ist Homosexualität verboten und wird mit hohen Gefängnisstrafen bedroht. Eine Einstufung der 3 Länder als "sicher" hätte auch negative Folgen für LSBTI-Geflüchtete aus diesen Ländern.

Daher kritisiert der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) auch eine Ausweitung der Liste der sicheren Herkunftsländer und fordert zudem, dass Senegal und Ghana von dieser Liste genommen werden. Die beiden afrikanischen Staaten kriminalisieren ebenfalls Homosexualität.

Bislang sind diese Pläne immer wieder gescheitert - auch aufgrund unseres Protests. So verweigerte der Bundesrat 2019 seine Zustimmung zu einem entsprechenden Gesetzesentwurf. Bundesregierung und Bundestag hatten bereits mit den Stimmen der Großen Koalition einer Einstufung von Tunesien, Algerien und Marokko zu sicheren Herkunftsländern zugestimmt. Laut Medienberichten möchte die neue Ampel-Regierung die Liste der vermeintlich sicheren Herkunftsstaaten nicht ausweiten.

In diesem Beitrag erklären wir, warum wir gegen die Einstufung von Verfolgerstaaten zu sicheren Herkunftsländern sind. 

Wenn Verfolgerstaaten wie Tunesien, Marokko und Algerien zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden, legitimiert das die politische Verfolgung von LSBTI und ein Verbot von Homosexualität.

In Algerien, Marokko und Tunesien wird einvernehmliche Sexualität unter Erwachsenen gleichen Geschlechts mit hohen Gefängnisstrafen bedroht. Es findet eine offensive Verfolgung, insbesondere von offen lebenden LSBTI statt. Immer wieder kommt es zu Festnahmen und Verurteilungen wegen Homosexualität. Lesben und Schwule sind gezwungen, ihre Homosexualität zu verbergen, da sie andernfalls schwerwiegende Übergriffe und Diskriminierung durch staatliche wie nicht-staatliche Akteure zu befürchten haben. Behörden wenden gegenüber „Verdächtigen“ Folterpraktiken wie zwangsweise Anal-Untersuchungen an, um sie der Homosexualität zu „überführen“. 

Wer Algerien, Marokko und Tunesien zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt, rechtfertigt daher die Verfolgung Homosexueller. So wird verharmlost, dass in diesen Maghreb-Staaten Menschen politisch verfolgt, eingesperrt und misshandelt werden, nur weil sie anders lieben. Die staatliche Verfolgung und Unterdrückung von LSBTI in diesen Ländern darf nicht ignoriert werden.

Alle Regierungen von LSBTI-Verfolgerstaaten könnten sich in ihrer Kriminalisierung bestätigt fühlen. Damit würden auch die internationalen Bemühungen zur Entkriminalisierung von Homosexualität massiv zurückgeworfen und Menschenrechts-Verteidiger*innen vor Ort im Stich gelassen. 

Deutschland hat hier auch eine besondere historische Verantwortung. In Deutschland fand im Nationalsozialismus eine Homosexuellen-Verfolgung ohne gleichen in der Geschichte statt. Auch in der Bundesrepublik blieb die menschenrechtswidrige Strafverfolgung von Homosexualität noch jahrzehntelang in Kraft. Erst 2017 haben Bundestag und Bundesrat die Männer rehabilitiert, die in Deutschland wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen nach § 175 StGB verurteilt wurden. Damit haben sie anerkannt, dass eine Bestrafung von Homosexualität gegen die Menschenrechte verstößt

Die gleiche Verletzung ihre Menschenwürde erleben LSBTI in Algerien, Marokko und Tunesien durch die dortige Gesetzgebung und staatliche Verfolgung. Diese Länder zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären, stünde im vollständigen Widerspruch zu allen Beschlüssen, die Bundestag und Bundesrat in den vergangenen zwei Jahrzehnten zur Strafbarkeit von Homosexualität gefasst haben.

Der LSVD hat daher diese Pläne mit Verweis auf die Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen in den drei Ländern immer wieder als „menschenrechtliche Bankrotterklärung“ verurteilt. 

Wenn Verfolgerstaaten wie Tunesien, Marokko und Algerien zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden, verstößt das gegen die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts.

Das Bundesverfassungsgericht verlangt klar und eindeutig: „Für die Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat muss Sicherheit vor politischer Verfolgung landesweit und für alle Personen- und Bevölkerungsgruppen bestehen“ (BVerfGE 94, 115).

Auch nach Art. 38 Abs. 1 Buchst. a der EU-Richtlinie 2013/32/EU dürfen die Mitgliedstaaten das Konzept des sicheren Herkunftsstaates nur dann anwenden, wenn die zuständigen Behörden sich davon überzeugt haben, dass für eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, in dem betreffenden Herkunftsstaat keine Gefährdung von Leben und Freiheit aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe besteht.

Das ist bei Algerien, Marokko und Tunesien nicht der Fall. Die Menschenrechtslage in diesen Staaten ist prekär. Für die Bevölkerungsgruppe der LSBTI besteht diese Sicherheit in Algerien, Marokko und Tunesien in keiner Weise. Denn die homophoben Strafgesetze werden auch angewandt. Das musste selbst die Bundesregierung einräumen. 

Die Verwirklichung dieses Vorhabens wäre ein eklatanter Verstoß gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für die Einstufung von Staaten zu sicheren Herkunftsstaaten und geltendes EU-Recht.

Wenn Verfolgerstaaten wie Tunesien, Marokko und Algerien zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden, verschlechtern sich die Chancen auf ein faires Asylverfahren für geflüchtete LSBTI aus diesen Ländern

Das Konzept der „sichere Herkunftsstaaten“ begegnet größten menschenrechtlichen Bedenken. Qua Gesetz wird vermutet, Geflüchteten drohe dort keine Verfolgung. LSBTI-Geflüchtete aus „sicheren Herkunftsstaaten“ können sich zwar auf ihre Verfolgung wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität berufen, aber das Verfahren ist so verkürzt, dass sie es schwer haben, die ihnen drohende Verfolgung geltend zu machen. Sie haben keinen Zugang zu fachkundiger Beratung und ausreichendem Rechtsschutz. 

Kommen Geflüchtete aus einem sicheren Herkunftsland, dann wird ihr Asylantrag erst einmal grundsätzlich als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Mit dieser der Ablehnung eines Asylantrags als „offensichtlich unbegründet“ wird zudem das Asylverfahren erheblich beschleunigt. Das mindert die Chancen auf Schutz und Asyl für Menschen, die vor brutaler Verfolgung wegen ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität aus eben diesen Ländern fliehen müssen, noch weiter.

Geflüchtete aus angeblich „sicheren Herkunftsländern“ sind während ihres Asylverfahrens zum unbegrenzten Verbleib in Erstaufnahme-Einrichtungen verpflichtet. Es ist ihnen verboten, zu arbeiten. Sie erhalten nur Sachleistungen und sind von Integrations-Maßnahmen ausgeschlossen.

In den überfüllten Erstaufnahme-Einrichtungen sind Menschen unterschiedlichster Herkunft mit häufig traumatischen Erfahrungen gezwungen, lange Zeit praktisch ohne jede Privatsphäre auf engstem Raum zusammenzuleben. Das schafft die Voraussetzungen für Spannungen und Konflikte. Für LSBTI besteht ihr ein erhebliches Risiko, erneut Opfer von Diskriminierung und Gewalt zu werden. Sie suchen in Deutschland Schutz vor Verfolgung und werden dann hier aber einer neuerlichen Bedrohung ausgesetzt.

Zudem bewirkt die Einstufung dieser Länder als sichere Herkunftsstaaten vor allem, dass die Geflüchteten einem beschleunigten Asylverfahren unterliegen. Das birgt gerade für queere Asylsuchende große Probleme. Es ist vielfach belegt, dass es ihnen oft zunächst (noch) nicht möglich ist, offen über ihre sexuelle Orientierung und die entsprechende Verfolgung zu berichten. 

Dies gilt insbesondere dann, wenn Homosexualität in ihren Herkunftsstaaten tabuisiert und verfolgt wird wie z.B. in den Maghreb-Staaten. Es ist eine Überlebens-Strategie, die eigene homosexuelle Orientierung gegenüber Dritten geheim zu halten. Ein Coming-out vor fremden Mitarbeitenden in den Behörden stellt für sie eine immense Barriere dar. Viele befürchten, dass diese Informationen weitergegeben werden, etwa an Behörden im Herkunftsland. Oft wissen Geflüchtete auch nicht, dass eine Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität ein anerkannter Fluchtgrund ist.

Schnellverfahren ohne Zugang zu fachkundiger Beratung und ausreichendem Rechtsschutz bedeuten für Menschen aus diesem Personenkreis, dass sie faktisch von einer fairen Prüfung ihrer Asylgründe ausgeschlossen werden.

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