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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD⁺)

Gemeinsam gegen Barrieren: Queere Solidarität gegen doppelte Ausgrenzung

Warum wir über Inklusion sprechen müssen und wie wir queeren Communitys helfen können, Diskriminierung und Isolation zu überwinden.

Im Rahmen des Programms IQGMS fördern wir elf Projekte in verschiedenen Regionen Deutschlands, die sich für die Integration queerer Menschen mit Flucht- und/oder Migrationsgeschichte einsetzen. Aber warum gibt es dieses Programm eigentlich?

Das Programm

Entstanden ist das Programm in Zusammenarbeit mit und durch Unterstützung der Robert Bosch Stiftung. Außerdem stand uns bei unserem ersten Förderprogramm die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld kollegial zur Seite. Die aktive Arbeit machen aber natürlich die Mitarbeitenden der jeweiligen Projekte. Deshalb haben wir mit einigen von ihnen gesprochen, um Fragestellungen rund um das Thema Integration queerer Geflüchteter und Migrant*innen noch besser darstellen zu können.

Die Kolleg*innen, mit denen wir uns für diesen Artikel ausgetauscht haben:

  • Kadir von Prisma Queer Migrants
  • Jochen von der Türkischen Gemeinde Baden-Württemberg
  • Judith von Freund statt fremd
  • Marlen von der Fachstelle Sexualität und Vielfalt
  • Ann von International Women* Space

Queerness: Isolation und Nachweispflicht

Viele Menschen der queeren Community teilen ähnliche Gefühle oder können sie zumindest nachfühlen: allein zu sein, sich zu verstellen, oder sich sogar verstecken zu müssen.

Kadir stellt klar: „Es gibt nicht viele migrantische Communitiy, die offen über queere Themen sprechen“. Dazu kommt, dass „die Unterbringung in Sammellagern mit Personengruppen, vor denen queere Geflüchtete geflohen sind“ etwas dazu beiträgt, „dass aus Scham und Angst die eigene sexuelle Identität verleugnet wird“, so Judith.

Da queere Menschen in Unterkünften häufig Ausgrenzung und Gewalt erleben, leiden sie oft unter „psychischen Belastungen wie Angst, Depressionen und Isolation“ erklärt Kadir.

Auch lange nach der Flucht stehen queere Menschen häufig vor einem Dilemma: „Oftmals kommen sie aus Ländern, wo sie ihre sexuelle Orientierung oder Identität geheim halten mussten“, beschreibt Marlen.

In Geflüchtetenunterkünften werden häufig Menschen mit gleicher oder ähnlicher Herkunft gemeinsam untergebracht. „Die Unterbringung mit den Personengruppen, vor denen queere Geflüchtete geflohen sind, wo sie Misshandlungen schutzlos ausgeliefert sind, tragen dazu bei, dass aus Scham und Angst die eigene sexuelle Orientierung [oder geschlechtliche Identität] verleugnet wird.“ (Judith)

Ann weist allerdings darauf hin, dass „wir alle soziale Wesen sind und wir Gemeinschaft, andere Menschen zum miteinander Lachen, zum gemeinsamen Essen“* brauchen.

Hinzu kommt, dass das Asylsystem vorsieht, dass Menschen ihre sexuelle Orientierung oder ihre Geschlechtsidentität „beweisen müssen“, damit dies jeweils als Fluchtgrund anerkannt werden kann. „Dies kann eine hohe emotionale Belastung bedeuten.“ (Marlen).

Ann beschrieb aus ihrer eigenen Erfahrung: “In meiner Heimat bzw. in (afrikanischen Communitys) meinen selbst diejenigen, die sich für sehr tolerant halten, häufig Queerness sei eine ,westliche‘ Geschichte. Wenn man aber in den ,Westen‘ kommt, wird die eigene Queerness auf einmal von außen hinterfragt. Man wird gefragt, ob man sicher ist, dass man queer ist. Und man bekommt gesagt, dass Queerness eigentlich anders aussieht. Man steckt also irgendwo zwischen den Welten fest.”

Queere Communitys und Diskriminierung

Viele queere Menschen finden Zugehörigkeit und vieles mehr in Communitys bei Treffen, in Gruppen und so weiter. Doch für queere Migrant*innen ist das nicht immer einfach. So berichten einige Projektleiter*innen von vielen Vorbehalten, die sie beobachten.
Kadir stellt dar, dass „in queeren Räumen weiterhin Körper von BiPOC durch Stereotype, Vorurteile, Rassismus und Fetische“ objektifiziert werden.
Judith beschreibt aber auch, wie „mehr Begegnungen mit der LSBTIQ-Community vor Ort, gemeinsame Aktivitäten, stabile Kontakte und Freundschaften“ helfen können.

Daraus ergibt sich, dass viele queere Menschen mit Flucht- und/oder Migrationsgeschichte häufig unter einer Mehrfachbelastung leiden. Traumatische Erfahrungen auf einer Seite, schwierige Situationen in Unterkünften oder in migrantischen Gruppen auf der anderen - dazu kann auch Ablehnung in queeren Räumen kommen.

Jochen beschreibt es so: „Sie müssen nicht nur mit den Schwierigkeiten der Migration und den Integrationserwartungen umgehen, sondern auch mit Vorurteilen und Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität.“

„Sie können beispielsweise mit der Verschränkung von homo- und transfeindlicher Gewalt und Diskriminierung einerseits wie z. B. in Geflüchtetenunterkünften oder in ihren Herkunftsmilieus und rassistischer Ausgrenzung und Stigmatisierung aus der Mehrheitsgesellschaft andererseits konfrontiert sein,“ ergänzt Marlen an.

Dazu kommt, dass durch die bundesweite Verteilung von Geflüchteten auch viele in eher ländlichen Gebieten untergebracht werden. Das bringt wiederum eigene Herausforderungen mit sich, auf welche die Projekte auch individuelle Antworten finden müssen. Mehr dazu im Interview mit Ann.

Intersektionalität und Lösungsansätze

Ein wichtiger Schritt, um Integration und Inklusion zu ermöglichen, ist die Anerkennung all dieser Voraussetzungen. Marlen zeigt auf: „Geschultes Personal legt den ersten Grundstein dafür, dass Menschen sich outen, offen mit ihrer sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität umgehen und sich bei Problemen oder Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen an die Mitarbeiter*innen wenden. Um die Integration von queeren Migrant*innen zu fördern, ist es wichtig, eine Vorstellung von ihrer Lebenssituation zu haben. Das heißt, es geht nicht nur um die Verbesserung der Lebensumstände Einzelner, sondern immer auch um eine Verbesserung der gesamtgesellschaftlichen Umstände.“

Migrantische Selbstorganisationen leisten einen wertvollen Beitrag, unter anderem weil sie „ein tiefes Verständnis für verschiedene kulturelle, religiöse, politische Hintergründe“ mitbringen (Kadir). Jochen fügte dazu: „Sie schaffen Vertrauen und können Brücken zwischen verschiedenen Identitäten schlagen.“

Ann ergänzte aus ihrer Perspektive: „Wir möchten für uns selbst sprechen können und Raum haben, um ehrlich und authentisch über unsere Erfahrungen und Erlebnisse zu sprechen, so dass wir Wege der Unterstützung erarbeiten können.“ Aber sie weist auch darauf hin, dass Interaktion und Kooperationen zwischen den Organisationen wichtig sind. Sie bieten Raum, um „gemeinsame Grundlagen zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zu finden“ (Ann).

Mentale Gesundheit und Selbstwirksamkeit sind wichtige Grundlagen für die Möglichkeit der gesellschaftlichen Inklusion. „Begegnungen mit Menschen, die gleiche oder ähnliche Erfahrungen machen oder gemacht haben, ist empowernd und stärkt das Gefühl von Selbstwirksamkeit“ (Marlen). Gruppen, Peer-to-Peer-Angebote, Workshops und Freizeitangebote sind und bleiben wichtige Bausteine der Integrationsarbeit.

Inklusion statt nur Integration

Integrationskurse und Sprachkurse sollen Menschen bei der Einfindung in unsere Gesellschaft helfen. Auch Anerkennungen von Ausbildungen, Vermittlungen in den Arbeitsmarkt und Wohnraum bilden wichtige Schritte der Integration. Unter Integration verstehen wir allerdings häufig unterbewusst eine Einbahnstraße, nämlich die Anpassung an und das Einfinden in eine Gesellschaft von nur einer Seite. Wir sprechen im Projekt deshalb von Inklusion.

Jochen beschreibt seinen Wunsch nach Inklusion so: „es gibt nicht eine Gruppe, die eine „Leitkultur“ bestimmt, nach der sich „die anderen“ richten, sondern ein Entwickeln einer gemeinsamen ,Kultur‘ in der Begegnung miteinander.“ Dabei geht es auch um Teilhabe unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Alter oder Fähigkeiten. So beschreibt es auch Judith: „Unter Inklusion versehe ich, dass alle Menschen, die in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben, sich als aktive Gestalter*innen begreifen und sich gleichberechtigt am politischen Diskurs beteiligen können.“

Marlen stellt klar: „Es liegt in der Verantwortung der Gesamtgesellschaft und der Politik, die Voraussetzungen für gleichberechtigte Teilhabe zu schaffen“. Die IQGMS-Förderprojekte leisten mit ihrer Arbeit vor Ort einen ganz besonderen Beitrag zu dieser Aufgabe.

Angebote und Kooperationen

Beratungsangebote, offene und regelmäßige Gruppenangebote, Workshops und Freizeitprogramme können viele der oben genannten Bedürfnisse und Problematiken ansprechen – auch viele unserer Förderprojekte arbeiten in diesen Bereichen und leisten einen wertvollen Beitrag.

Abbau von Vorurteilen – auch in queeren Communitys – ist aber genauso wichtig wie Beratung und Hilfe zur Selbstermächtigung. Denn das ist Grundlage für die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe. Dazu gehört auch die Sensibilisierung und Schulung von Fachpersonal, sei es in den Unterkünften, in Behörden, Kommunen und Sprach- und Integrationskursen.

Ein wichtiger Hinweis, der in den Gesprächen immer wieder aufgetaucht ist, ist die Bedeutung spezialisierter Schutzunterkünfte für queere Geflüchtete. Die Zahl der Angriffe auf LSBTIQ* in Sammelunterkünften steigt und das Fehlen von Schutzbereichen führt zu weiterer Isolation mit weitreichenden Folgen.

Viele der Projektleiter*innen haben auch festgestellt, dass Kooperationen zwischen verschiedenen Organisationen und Projekten wichtig sind. Gemeinsam sind wir immer stärker. Austausch, voneinander lernen, sowie gemeinsame Projekte können maßgeblich zur Verbesserung der Ausgangslage beitragen.

Wir freuen uns sehr, dass wir dank der Unterstützung der Robert Bosch Stiftung und in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung ein Programm bieten konnten, das nicht nur finanzielle Unterstützung leistet, sondern auch Kommunikation, Austausch und Weiterbildung ermöglicht. 

Chantal Müller
Projektleitung "Integration von queeren Geflüchteten und Migrant*innen stärken"

 

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