Menu
Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

#DoNoHarm Wie gelingen gute und nachhaltige Projekte mit und für LSBTI in Lateinamerika?

Erfahrungen aus zehn Jahren vorbildlicher Projektarbeit in Nicaragua

Seit 2007 engagiert sich die Hirschfeld-Eddy-Stiftung für die Menschenrechte von LSBTI in Nicaragua. Die Kooperation mit unserer Partnerorganisation Red de Desarrollo Sostenible entwickelte sich dank der Unterstützung durch das Auswärtige Amt

Red de Desarollo Sostenible (RDS) ist eine nicaraguanische NGO, mit der die Hirschfeld-Eddy-Stiftung seit Jahren zusammenarbeitet. In über zehn Jahren hat RDS sehr erfolgreich für eine größere Akzeptanz von LSBTI in der nicaraguanischen Gesellschaft gearbeitet: Aktivist*innenplattform, Schulungen an Universitäten, ein umfassendes Handbuch für Medien zum Thema LSBTI und andere erfolgreiche Projekte. Heute (2022) ist die Arbeit als NGO praktisch nicht mehr möglich, die autoritäre Regierung unterdrückt zivilgesellschaftliche Aktivitäten durch Willkürgesetze und Gewalt. Klaus Jetz stellt in diesem Artikel dar, was die Projekte so erfolgreich gemacht hat, als es noch Handlungsspielräume gab: durch die Einbeziehung von indigenen Gruppen, die selbstverständliche Zusammenarbeit von Trans*, Inter*, Schwulen, Lesben und anderen Marginalisierten, außerdem mit Frauengruppen, Umweltgruppen, Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften sowie Jugendliche, Indigene und Afronicaraguaner*innen.

Inhaltsangabe

 

Seit der Niederschlagung des Aufstandes im April 2018 ist die Arbeit zwar unmöglich geworden, aber es gibt dennoch Hoffnung: Gerade hat sich eine neue regionale Struktur gegründet, die sich für LSBTI in Nicaragua, Honduras, Guatemala, Panama und Costa Rica engagieren will.

Seit 2007 engagiert sich die Hirschfeld-Eddy-Stiftung für die Menschenrechte von LSBTI in Nicaragua. Die Kooperation mit unserer Partnerorganisation Red de Desarrollo Sostenible (Netzwerk für nachhaltige Entwicklung) entwickelte sich dank der Unterstützung durch das Auswärtige Amt hervorragend. Mehrere landesweite Projekte zum Thema Sexuelle Vielfalt und Menschenrechte in Nicaragua konnten in zehn Jahren durchgeführt werden. Sie zielten auf die nachhaltige Stärkung der nicaraguanischen LSBTI-Bewegung und zugleich auf eine verstärkte Bewusstseinsbildung in der nicaraguanischen Gesellschaft für das Thema Menschenrechte und sexuelle Vielfalt, auf einen verstärkten Menschenrechtsschutz für LSBTI im Land und langfristig auch auf eine ausgewogenere Berichterstattung zu LSBTI-Themen und mithin eine Steigerung der Akzeptanz für LSBTI in Nicaragua.

Aktivist*innen-Plattform: Mesa Nacional LGBTI

Rund 20 Gruppen aus den verschiedenen Regionen Nicaraguas nahmen seit 2010 an regelmäßigen Treffen teil, die dem Austausch und der Stärkung der Gruppen sowie der Planung konkreter Projektschritte dienten. Gemeinsam wurden in einem partizipativen Prozess wichtige Positions- und Strategiepapiere zur Lobbyarbeit sowie eine nationale LSBTI-Agenda verabschiedet. So entstand eine „Mesa Nacional LGBTI“ genannte Aktivist*innen-Plattform. Durch eine Kampagne „Wir leben in Vielfalt und fordern Gleichheit“ wurde versucht, die Bevölkerung des Landes für LSBTI-Anliegen zu sensibilisieren. Bekannte Künstler*innen und Musiker*innen wurden dafür gewonnen, ein Song und Videoclip wurden produziert, die auf ein positives Echo in den Medien des Landes stießen. So wurden Türen zu den Medien geöffnet, die Kolleg*innen wurden zu gefragten Gesprächspartner*innen für die Medien ihres Landes.
Kooperation mit Hochschulen

Darüber hinaus wurde die Zusammenarbeit mit den Universitäten des Landes verstärkt. Red de Desarollo Sostenible (RDS) bot Seminare zum Thema Kommunikation und Menschenrechte von LSBTI an. In einem Modellprojekt konnten rund 100 Studierende an drei Unis geschult werden. Sie erlernten eine diskriminierungsfreie Sprache und menschenrechtliche Inhalte, schrieben Artikel und Reportagen und nahmen an einem journalistischen Wettbewerb zu LSBTI-Themen teil, bauten kontinuierlich Wissen auf und entwickelten auf diesem Wege eine größere Akzeptanz für LSBTI. Zudem nahmen die Universitäten LSBTI-Themen ins Curriculum einiger Studiengänge auf.

Handbuch für die LSBTI-Berichterstattung in Nicaragua

Zudem entwickelten die Kolleg*innen in Managua ein Handbuch für Medienschaffende. Dieses wichtige Tool zum Diskriminierungsabbau mit dem Titel „Schlüssel für die Kommunikation in einer Welt der Vielfalt. Anleitung für die Berichterstattung über LSBTI-Themen in Nicaragua“ für die journalistische Praxis wurde der Öffentlichkeit vorgestellt und stieß auf großes Interesse. Es analysierte schlechte Beispiele von Berichterstattung und liefert Alternativen und Empfehlungen. Zunächst wurden Begriffen wie „transgénero“, „transsexual“, „heterosexismo“, „orientación sexual“ und „identidad de género“ oder „diversidad sexual“ erläutert. Eine inklusive Sprache, eine Sprache, die LSBTI-Rechte und den Kampf der LSBTI-Community für ihre Rechte nicht ausklammert, wurde eingefordert. LSBTI wurden als Menschen mit Rechten und Pflichten gesehen, nicht nur als Opfer von Gewalt und Verbrechen. Damit leistete das Handbuch einen wichtigen Beitrag zur ausgewogenen Berichterstattung über LSBTI, die Sensationalismus und Voyeurismus entgegenwirkte; medienkritische Arbeit wurde zu einem Teil der Sensibilisierungsarbeit.

Ausgangsidee: Nachhaltige Entwicklung stärkt die Menschenrechte

Die Ausgangsidee bestand darin, dass nachhaltige Entwicklung die Menschenrechte stärkt. Besonders vulnerable Gruppen, etwa LSBTI, die sich im Prozess des Coming-out befinden, benötigen einerseits die Unterstützung anderer gesellschaftlicher Organisationen, sie müssen Allianzen bilden. Andererseits ist die Sichtbarkeit wichtig, die etwa durch Aktionen an internationalen Gedenktagen wie dem 8. März, 17. Mai, 28. Juni oder 25. November vergrößert werden kann. Trotz aller Gefahren wie Übergriffe auf Demonstrierende und Verhaftungen entschloss sich das nicaraguanische Netzwerk für nachhaltige Entwicklung vor einigen Jahren, einen Forderungskatalog, eine Minimalagenda für LSBTI im Land mit breiter Beteiligung von LSBTI-Organisationen aus dem ganzen Land zu entwickeln. Heute, im Jahr 2022, wären diese Aktivitäten im autoritär regierten Nicaragua nicht mehr möglich, besteht doch für Aktivist*innen seit 2018 die Gefahr der willkürlichen Festnahme und Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen wegen angeblicher terroristischer Handlungen. Über NGOs hängt das Damoklesschwert des Verlustes der Rechtsform, was die Einziehung aller Besitztümer eines Vereins und Inaktivität zur Folge hat.

Minimalagenda für LSBTI: körperliche Unversehrtheit und Zugang zu Arbeitsplätzen

Doch vor gerade mal zehn Jahren kamen rund 30 meist jugendliche Vertreter*innen diverser LSBTI-Organisationen aus den unterschiedlichsten Regionen, einschließlich indigener und afronicaraguanischer Gruppen aus den autonomen Atlantikregionen, über ein Jahr lang immer wieder zusammen und formulierten in einem basisdemokratischen, partizipativen Prozess ihre Minimalforderungen an Politik und Gesellschaft. Die beinhalteten Aspekte der Nichtdiskriminierung und gleichberechtigten Teilhabe, des diskriminierungsfreien Zugangs zu Leistungen in den Bereichen Erziehung und Gesundheit für die LSBTI-Community. Nicht Themen wie die Ehe für alle standen im Vordergrund, in einem Land, in dem die Lebenserwartung von Trans*-Personen gerade einmal 35 Jahre beträgt, sondern vielmehr die persönliche Sicherheit und körperliche Unversehrtheit, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, der diskriminierungsfreie Zugang zu Arbeitsplätzen, Ausbildung, medizinischer Versorgung, zu Gütern und Dienstleistungen.

Strategien zur Zielerreichung im Projekt

Wie wurden Fortschritte erreicht und wie wollten die Kolleg*innen den selbst gesteckten Zielen näherkommen? Zunächst standen die Allianzenbildung und der Gedanke, gemeinsam mehr zu erreichen, im Mittelpunkt. Frauenverbände, NGOs aus den Bereichen Naturschutz und Ökologie, offene politische Parteien und kirchliche Strukturen, Gewerkschaften und allgemeine Menschenrechtsorganisationen sowie im Land aktive internationale Organisationen wurden adressiert, zu Veranstaltungen eingeladen, sensibilisiert und für die eigenen Anliegen gewonnen, nachdem man selbst Anliegen und Forderungen anderer sozialer Gruppen unterstützt und befördert hatte. Zudem spielten Kommunikation und Medien eine zentrale Rolle.

Inklusion und Intersektionalität in der Projektarbeit

In Bezug auf die eigene Community legten die Kolleg*innen größten Wert auf eine inklusive Herangehensweise in ihrer Projektarbeit, auf Themen wie Vielfalt und Intersektionalität. Es ging ihnen darum, niemanden auszuschließen, alle mitzunehmen, die Stimmen zu multiplizieren und auch die Forderungen stärker bei Jugendlichen, Indigenen, Afronicaraguaner*innen zu verankern, dafür zu sorgen, dass sie alle sich die Forderungen zu eigen machen und immer wieder in den verschiedensten Kontexten thematisieren. In der Projektarbeit wurde meist nicht von LSBTI-Rechten gesprochen, sondern von sexuellen oder reproduktiven Rechten, von Diskriminierungsabbau, von Menschenrechten allgemein, von nachhaltiger menschlicher und gesellschaftlicher Entwicklung. Als die staatliche Repression ab 2018 zunahm, verlegten die Kolleg*innen ihre Arbeit auf Themen wie Monitoring von Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen, Denunziation von Menschenrechtsverletzungen vor internationalen Organisationen wie UN-Menschenrechtsrat oder der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte.

Irreversibler Prozess

Was in Nicaragua an LSBTI-Projektarbeit angestoßen wurde, ist nicht verloren. Trotz Repression, Willkür und Gewaltherrschaft, die sich seit dem Aufstand vom April 2018 etabliert haben. Zwar konnte das letzte Projektvorhaben in 2021, die Sensibilisierung oppositioneller Parteien für LSBTI-Anliegen im Vorwahlkampf, nicht mehr realisiert werden. Doch der Boden wurde bereitet für die Zukunft in einer postsandinistischen Zeit. Die erarbeiteten Projektergebnisse liegen vor, die gesteckten Ziele können weiterverfolgt werden, sobald die Gefahren für Leib und Leben, denen sich Menschenrechtsaktivist*innen im heutigen Nicaragua ausgesetzt sehen, nicht mehr bestehen. Dass ein irreversibler Prozess angestoßen wurde, zeigt die Tatsache, dass die Kolleg*innen den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die regionale Kooperation verlagert haben.

Regionale Kooperationen in Zentralamerika

Die Hirschfeld-Eddy-Stiftung hat mit den Partner*innen in Managua vereinbart, zusammen mit weiteren Kolleg*innen aus Zentralamerika an Projektmöglichkeiten für die kommenden Jahre zu arbeiten. Eine regionale Struktur, ein in San José registrierter Verband mit Mitgliedsorganisationen aus Nicaragua, Honduras, Guatemala, Panama und Costa Rica, wurde bereits gegründet. Es handelt sich um eine Plattform, die sich für die Belange von LSBTI und deren Organisationen in Zentralamerika einsetzt und das Ziel verfolgt, Einfluss zu nehmen auf die regionale Politik, Integrationsbestrebungen und die Mechanismen des zentralamerikanischen Menschenrechtssystems. Auch so lassen sich langfristig Einstellungsveränderungen in Bezug auf LSBTI in den regionalen Gesellschaften und eine nachhaltige Stärkung der zentralamerikanischen LSBTI-Bewegung erreichen.
Klaus Jetz, Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Ein Beitrag im Rahmen des Projekts „Do no harm – Risiken für LSBTI in der internationalen Projektarbeit minimieren“ der Hirschfeld-Eddy-Stiftung. Alle Artikel im Rahmen des Projekts sind im Blog unter dem Tag „DNH-2022“ zu finden.

Weiterlesen