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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Schwuler Aktivist soll in den Verfolgerstaat Algerien zurückkehren

BAMF hält vor Gerichtsverhandlung an negativem Asylbescheid fest

Pressemitteilung vom 15.08.2022

Gemeinsame Pressemitteilung der AIDS-Hilfe Hessen und des Lesben- und Schwulenverbandes Hessen (LSVD Hessen) vom 15.08.2022

Abdelkarim Bendjeriou-Sedjerari versucht nunmehr bereits seit 2019, in Deutschland Schutz vor der queerfeindlichen Verfolgung durch den algerischen Staat und die algerische Gesellschaft zu finden. In seinem Heimatland stehen auf homosexuelle Handlungen mehrjährige Haftstrafen, die Mehrheit der Gesellschaft lehnt schwule, lesbische, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche (LSBTI) Menschen ab. Außerdem ist Abdelkarim Bendjeriou-Sedjerari HIV-positiv. Weder seine HIV-Infektion noch sein öffentlicher Einsatz für die Rechte queerer Geflüchteter vermögen bisher das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zum Einlenken zu bewegen. Am Dienstag (16.08.2022) verhandelt das Verwaltungsgericht Frankfurt den prominenten Fall.

Der Fall des 35-jährigen Algeriers steht dabei stellvertretend für eine Praxis, mit der das Bundesamt seit Jahren ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2013 unterläuft. Dem Urteil des höchsten EU-Gerichts zufolge können die zuständigen Behörden „vernünftigerweise nicht erwarten, dass der Asylbewerber seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden.“

In vielen Fällen hält das BAMF zwar die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität von Schutzsuchenden für glaubhaft, lehnt aber trotz des EuGH-Urteils ihre Asylgesuche ab, selbst wenn ihnen im Herkunftsland Haftstrafen drohen. Die Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP haben vor diesem Hintergrund im Koalitionsvertrag vereinbart, die Beurteilung der Verfolgungswahrscheinlichkeit bei queeren Verfolgten zu überprüfen. Das BAMF hält jedoch an seiner europarechtswidrigen Praxis fest und lehnt sogar Asylgesuche von LSBTI-Personen aus den schlimmsten Verfolgerstaaten ab.

Zwar erklärt das BAMF in internen Dokumenten (bspw. Entscheiderbrief 12/2021) und auch gegenüber z. B. dem Spiegel, dass sich die Anwendung von Diskretionslogiken nur auf „seltene Einzelfälle“ beschränkt, in denen Antragsteller*innen „aus eigenem, freiem Willen“ ein Doppelleben führen. Dabei hält sich das BAMF nicht einmal an die eigenen (aus unserer Sicht ohnehin massiv kritikwürdigen) Vorgaben.

So auch bei Abdelkarim Bendjeriou-Sedjerari: 2019 stellte er einen Asylantrag – ohne Erfolg. Das Bundesamt stützte seinen Ablehnungsbescheid vom 27.06.2019 ganz offensichtlich europarechtswidrig darauf, dass sich der Algerier bei Rückkehr durch ein lebenslanges Doppelleben vor der Strafverfolgung durch den algerischen Staat schützen könne:

„Bei einer Verurteilung nach Art. 333 ist mit einer Gefängnisstrafe in Höhe von sechs Monaten bis drei Jahren sowie einer Geldstrafe zwischen 1.000 und 10.000 Dinar zu rechnen. Soweit die Beweislage eine Verurteilung zulässt, werden diese Strafen regelmäßig ausgesprochen. Auskünften zufolge setzt das Verbot der Homosexualität und insbesondere das Verbot des Auslebens der Homosexualität Homosexuelle einem gewissen Verfolgungs- Geheimhaltungsdruck aus. Es muss jedoch klar gesagt werden, dass eine systematische Verfolgung homosexueller Personen (verdeckte Ermittlungen usw.) nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes nicht stattfinden. Homosexualität wird wie gesagt für die Behörden nur dann strafrechtlich relevant, wenn sie offen ausgelebt wird.“

Abdelkarim Bendjeriou-Djerari klagte gegen den rechtswidrigen Bescheid vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt. Dieses negierte in seinem Urteil vom 05.03.2020 das „real risk“ für schwule Männer in Algerien, und erklärte in vollkommener Verkennung der EuGH-Rechtsprechung:

„Den Wunsch des Klägers, seine Homosexualität in Algerien offen auszuleben, erachtet das erkennende Gericht im Hinblick auf die konkreten Umstände des vorliegenden Ein­zelfalles für nicht durchgreifend.“

Im November 2020 stellte Abdelkarim Bendjeriou-Djerari dann einen Asylfolgeantrag, den das BAMF am 12.02.2021 jedoch als unzulässig ablehnte und somit gar kein weiteres Asylverfahren zuließ. In der Ablehnung spielte das Bundesamt abermals die LSBTI-feindliche Verfolgung durch den algerischen Staat herunter, und argumentierte erneut europarechtswidrig, dass sich der algerische Mann durch eine Geheimhaltung seiner Homosexualität schützen könnte:

„Bereits im Bescheid vom 27.06.2019 sowie auch im Urteil des Verwaltungsgerichts vom 05.03.2020 wird nicht verkannt, dass es gelegentlich zu Verhaftungen und gegebenenfalls — wenn auch selten – zu Verurteilungen gern. der §§ 333 und 338 des algerischen Strafgesetzbuches kommt. Die strafrechtliche Relevanz von Homosexualität wurde im vorangegangen Folgeverfahren entsprechend gewürdigt. Es wurde festgestellt, dass es keine systematische Verfolgung homosexueller Personen gibt, auch keine Gruppenverfolgung und sich die Verfolgung auf öffentlich gelebte Homosexualität beschränkt.“

Abdelkarim Bendjeriou-Djerari erhob Klage gegen den Bescheid vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt. Im August 2021 legte der LSVD den Fall zusammen mit zahlreichen weiteren Fällen, in denen das Bundesamt europarechtswidrig von einem Doppelleben im Herkunftsland bei der Beurteilung der Verfolgungswahrscheinlichkeit ausgegangen war, dem Bundesamt zur Überprüfung vor.

Die Tatsache, dass laut US-Außenministerium und Human Rights Watch am 24. Juli 2020 über 40 Personen verhaftet wurden, wird im „unzulässig“-Bescheid des BAMF vom 12.02.2021 als wörtlich „Einzelfall“ abgetan. Aus einem Bericht von ILGA vom Dezember 2021 geht überdies hervor, dass in Algerien seit Juli 2020 in vier bekannt gewordenen Fällen rund 80 Menschen wegen ihrer Homosexualität verhaftet wurden. Mit diesen Fakten hat sich das BAMF seit Februar 2021 mit keinem weiteren Satz auseinandergesetzt, und auch auf die inhaltliche Kritik des LSVD von August 2021 ging das BAMF bisher nicht ein.

Abdelkarim Bendjeriou-Sedjerari setzt sich derweil als schwuler Aktivist für die Rechte von LSBTI-Geflüchteten ein. So erzählte er seine eigene Geschichte im ARD-Mittagsmagazin, trat zusammen mit LSVD-Bundesvorstand Philipp Braun auf der Bühne des CSD Frankfurt auf und nahm für den LSVD an einer Veranstaltung der US-amerikanischen und kanadischen Botschaft zu queeren Geflüchteten in Berlin teil. Das Bundesamt ist jedoch nicht bereit, seinen Bescheid bezüglich des algerischen Aktivisten zu korrigieren und ihm in Deutschland Schutz zu gewähren, sondern setzt ganz offensichtlich auf eine Ablehnung der Klage durch das Verwaltungsgericht.

Knud Wechterstein, der den Algerier für die AIDS-Hilfe Frankfurt seit Jahren begleitet, erklärt hierzu: „Abdelkarim kenne ich seit Beginn seines Asylverfahrens 2019. Er ist einer der wenigen Klienten, der schon in der Erstaufnahme in Gießen seine Homosexualität nicht versteckt hat. Jetzt wohnt er in der von der AH-Frankfurt betriebenen Unterkunft für queere Geflüchtete in Frankfurt. Mir und dem Team in der Unterkunft ist es unerklärlich, warum einer so offen homosexuell lebenden Person wie Abdelkarim zugemutet werden soll, diesen wichtigen Teil seiner Persönlichkeit wieder zu verbergen, um Verfolgung im Herkunftsland zu entgehen".

Die AIDS-Hilfe Hessen und der LSVD Hessen fordern das Bundesamt und das zuständige Gericht auf, dem schwulen und HIV-positiven algerischen Aktivisten Abdelkarim Bendjeriou-Djerari einen Schutzstatus zu verleihen. Würde er nach Algerien zurückkehren, würden ihm – spätestens nach seiner Kritik an der Lage für LSBTI-Personen in Algerien im deutschen Fernsehen – mehrjährigen Haftstrafen drohen.

„Wir fordern Bundesinnenministerin Faeser (SPD Hessen) auf, den Koalitionsvertrag umzusetzen und den menschenverachtenden „Diskretionsprognosen“ des Bundesamtes endlich einen Riegel vorzuschieben. Es kann nicht sein, dass das Bundesamt queere Menschen in LSBTI-Verfolgerstaaten zurückschickt, und sie dort zu einem lebenslangen Doppelleben und zu ständiger Angst vor Verfolgung verdammt“, sagt Georgios Kazilas, Mitglied des Vorstands LSVD Hessen.

 

Weiterführende Informationen:

PM des LSVD-Bundesverbands zum „Diskretionsgebot“:
Europarechtswidrige „Diskretionsprognosen“ des BAMF bei queeren Geflüchteten
Kritik von Verwaltungsgerichten sowie aus den Regierungsfraktionen wächst

Artikel zur Entscheidungspraxis bei queeren Geflüchteten im Spiegel:
Kritik am Bamf
Abschiebepraxis diskriminiert homosexuelle Geflüchtete

ILGA-Bericht von Dezember 2021: 
Our Identities Under Arrest. A global overview on the enforcement of laws criminalising consensual same-sex sexual acts between adults and diverse gender expressions (Algerien: Seiten 51-53)

BAMF-Entscheiderbrief 12/2021
EuGH: Anpassung eines Übersetzungsfehler im Urteil zum Diskretionsgebot (interne Vorgaben zum Umgang mit LSBTI-Asylgesuchen auf Seite 5)

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