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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Recht

Feststellung der Flüchtlingseigenschaft für schwulen Antragsteller aus Nigeria

Zusammenfassung des Urteils des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 18.11.2021 (3 K 1759/20.A)

LGBTI in Nigeria könnten ihre sexuelle Orientierung nicht öffentlich ausleben und seien massiven Diskriminierungen und Anfeindungen ausgesetzt. Dem Kläger drohe im Falle seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aufgrund seiner Homosexualität.

Hierfür sei unerheblich, inwiefern der Kläger seine Homosexualität in Deutschland auslebe. Im Gegensatz zur politischen oder religiösen Überzeugung betreffe die sexuelle Betätigung die Intimsphäre eines Menschen. Somit dürfe von einer nur zurückhaltend ausgelebten Sexualität nicht ohne weiteres auf ein fehlendes oder geringes Bedürfnis dazu geschlossen werden. Das gelte umso mehr, wenn der Betreffende in einem gesellschaftlichen Umfeld wie Nigeria aufgewachsen sei und geprägt wurde, in dem jedwede Sexualität ein tabuisiertes Thema sei und in dem abweichende sexuelle Orientierungen als krankhaft und kriminell geächtet würden. Auch wenn sich die Betroffenen diesen Einflüssen durch ihre Flucht entzogen hätten, sei zu erwarten, dass ihre sexuelle Orientierung für sie aufgrund der erlebten Stigmatisierung noch lange ein scham- oder gar schuldbesetztes Thema bleibe.

Angesichts dessen seien Prognosen hinsichtlich des zukünftigen Auslebens der sexuellen Neigungen durch eine homo- oder bisexuelle Person grundsätzlich problematisch. Sie dürften jedenfalls nicht entscheidender Maßstab für die Frage der Zumutbarkeit einer Rückkehr ins Herkunftsland sein. Auf Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sei anerkannt, dass "bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die zuständigen Behörden von dem Asylbewerber nicht erwarten [können], dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden". Dies sei von der deutschen Rechtsprechung bisher weitgehend dahingehend ausgelegt worden, dass diskretes Verhalten bei der Prüfung eines Asylantrages nicht vom Anntragsteller "verlangt" werden dürfe. Dennoch werde in der Regel eine Prognose dahingehend angestellt, in welchem Umfang der Betroffene voraussichtlich seine Neigungen im Herkunftsland ausleben werde. 

Der Europäische Gerichtshof habe in der Originalfassung des Urteils aber tatsächlich ausgeführt, "bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft können die zuständigen Behörden vernünftigerweise nicht erwarten, dass der Asylbewerber seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden." Der Einschub "von dem Asylbewerber" anstatt "vernünftigerweise" sei eine Veränderung des Urteilstextes in der deutschen Übersetzung, die den Sinn der Aussage verändert. Es müsse angenommen werden, dass der Gerichtshof nicht nur ausschließen wollte, dass die Behörden ein solches Verhalten vom Betroffenen verlangen, sondern klarstellen, dass sie eine solche Diskretion auch nicht - etwa aufgrund einer bisher sexuell zurückhaltenden Lebensweise - unterstellen oder prognostisch vermuten dürfen.

Die sexuelle Orientierung sei zwingend bedeutsamer Bestandteil der Identität eines Menschen. Dies würde man auch einer heterosexuellen Person nicht absprechen, selbst wenn diese seit Jahren ohne Partner oder sexuelle Kontakte lebe. Wie viel Platz Sexualität und Partnerschaft im Leben eines Menschen einnähmen, sei individuell und könne sich jederzeit massiv verändern. Unter dieser Prämisse dürfe ein Geflüchteter nicht in ein Land zurückgeschickt werden, in dem ihm das offene Zusammenleben mit einem frei gewählten Partner der Gefahr staatlicher Verfolgung aussetzen würde. Die Entscheidung, wie jemand seine sexuelle Orientierung auslebe, sei eine höchstpersönliche, deren Bewertung dem Gericht entzogen sei.